DEUTSCHE RUNDSCHAU
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Collection:
Document Number (FOIA) /ESDN (CREST):
CIA-RDP78-02771R000300490002-1
Release Decision:
RIFPUB
Original Classification:
K
Document Page Count:
100
Document Creation Date:
December 19, 2016
Document Release Date:
June 19, 2003
Sequence Number:
2
Case Number:
Publication Date:
July 1, 1959
Content Type:
REPORT
File:
Attachment | Size |
---|---|
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Body:
lease 2003/08111 CIA-RDP78-02771 R000300490002-1
OTTO LEHMANN-RUSSBULDT
Die weltpolitischt Aufgabe
der kleinen Nationen
HARRY PROSS
Pri fstein Guinea
ROSEMARIE WINTER
HANS-ULRICH ENGEL
Zweimal Potsdam
Erinnerungen
an Federico Garcia Lorca
GOLO MANN
, Metternich
JONAS LESSER
Thomas Mann and Wilhelm Raabe
OTTO\ V.. TAUBE
In den Marken
jAHRGANG BADEN -$AbEN ?J`UNf 1959
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JUNI 1959
RUNDSCHAU
Die Deutsche Bibliothek (481) - Die Universitats-Selbstverwaltung (482) - Der'
Haft der Friedhofssch finder (483) - Eine neue Art von Radiodemokratie (485) -
Otto Freiherr von Taube (487) - Peter Suhrkamp t (488)
AUFSATZE
Otto Lehmann-Iussbiildt.
Die weltpolitische Aufgabe
Jean Gebser
Erinnerungen an
l'
der kleinen Nationen . .
Federico Garcia Lorca
510
Harry Pross
Prufstein Guinea
'Golo Mann
Metternich . . . . . . . .
513
Rosemarie Winter
Juend, Reisen and
498
Jonas Lesser
Thomas Mann and Wilhelm Raabe
Hans-Ulrich Engel
Zweimal Potsdam
Felix Langer
Die unsiehtbare Toga
ZEITSCHRIFTEN-RUNDSCHAU (530) - THEATER-RUNDSCHAU (532)
GEDICHTE
Richard.. Ebert (497) - Andreas Donath (512) - Theodor Sapper (517) - Gertrud.
von Pe+iersdorf (523) - Federico Garcia Lorca (534) - Helmut amprecht (553)
Otto v. Taube
In den Marken
PROSA
Hugo Hartung
535 Das Denkmal . . .
LITERARISCHE RUNDSCI-IAU ,
Eichner (554)' - Knoop, Westphal (557) - Wolff u. a. (563) - Algren (564)'-
Mallet-Doris (565) - Schaper (566) - Marnpell (566) - Hagclstange, Schroers (567)
- Korn (567) - Kemp (568) - v. Hornstein (568) - Kendall (570) - Kocbjer (571)
Hinweise (571)
Verlag Deutsche R u n ds cli a.u, Baden-Baden, SdilolistraRe 8, Telefon 4259 - Redaktion:
Weiler i. A., Salrners Die Deutsche Rundschau erscheint monatlich. Einzelpreisi
DM 2,10, viertcljahrlich: DM 5,-, jahrlich: DM 18,-, ermaliigter Jahresbezug fair Studierende:
DM,12,-. Zuziiglich Zustellgebtihr. Bankverbindung: Stadtische Sparkasse Baden-Baden, Konto-
Nr. 88. Postseheckkonto Deutsche Rundschau Dr. Rudolf Pechel, Karlsruhe Nr. 720 30. Gultig
Auzeigenliste Nr. 3. - Die Deutsche Ru.ndschau veroffentlicht her Erstdrueke. Nachdruck
our mit Genehmigung der Redaktion. Nichtverlangte Rezensionsexemplare werden in keinem
Fall, Manuskripte nur dann zuriickgeschickt, wean Ritckporto beiliegt.
Herausgeber: R u d o 1 f P c c It e 1, Verantwortlicher Redakteui: H a try Pros s.
Druck: Dr. Willy Schmidt, Baden-Baden, Lange StraBe 53.
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R U NDS C H A U
Die Deutsche Bibliothek
Am 24. April hat Bundesprasident Heuss das neue Haus der ,,Deut-
schen Bibliothek" in Frankfurt/Main eingeweiht. Es ist ein Turmbau,
der Erweiterungsmoglichkeiten nach oben hat, dazu bestimmt, von alien
deutschen Druckerzeugnissen je ein Exemplar aufzunehmen and es biblio-
graphisch zu erfassen, ein gigantisches Archiv also, dessen hochstes Ziel
die Vollstandigkeit ist.
Der Wunsch nach Vollstandigkeit war es auch, der 1946 an der Wiege
des Unternehmens stand. Die beriihmte Deutsche Bucherei" in Leipzig,
die ehrwurdige Sammelstelle der deutschen Literatur, war kaum er-
reichbar and zeigt die ersten Anzeichen, daf3 an die Stelle der Voll-
zahligkeit das Prinzip der Parteilichkeit treten sollte. Das entsprach
wohl der sowjetischen Politik, die in Potsdam auf straffe Zentralisie-
rung Restdeutschlands gedrangt'hatte, nicht. aber der raum- and freiheit-
gebenden Staatsauffassung des Westens, and schon garnicht den In-
teressen einer deutschen Nationalbibliographie. So entwickelte sich aus
dem Frankfurter Ableger eine Stiftung offentlichen Rechts, die 1952
ihre eigene Form erhielt. Seitdem haben wir zwei Nationalbibliotheken,
was zweifellos besser ist als keine vollstandige zu haben.
In den Eroffnungsfeierlichkeiten des Frankfurter Neubaues war denn
neben der Freude am gelungenen Werk auch die Trauer zu spuren, daf3
es soweit gekommen ist. Irides: Wir leben nicht mehr in einer Zeit, in
der Teutonen and auch Germanisten, soweit die deutsche Zunge klingt,
sprachliche zu nationalistischen Argumenten verbiesterten. Der Frank-
furter Turm wirkt eher wie eine List der Vernunft, die fiber die Forde-
rungen der bibliographischen Praxis zum Ziele der Freiheit kommt.
Betrachtet man ihn so, erscheint er, wie manche andere scheinbar nur
betrubliche Verdoppelung deutscher Einrichtungen, als ein Triumph
des elastischen Sinnes uber die Erstarrung, in der ein Teil des Vater- -
landes gefangen sitzt.
So hat denn der prachtige Professor Eppelsheimer, dessen unermud-
licher Tatkraft wir die Rettung der deutschen Nationalbibliothek vor
dem kommunistischen Doktrinarismus verdanken, auch entschieden abge-
winkt, als Leipzig vor ein paar Jahren seinen ?Wiedervereinigungs"-
vorschlag machte: Die Deutsche Bucherei in Leipzig wolle den alpha-
betischen Index herstellen and Frankfurt solle daraus das Schlagworter-
verzeichnis fertigen!
Diese Falle war zu plump gestellt, als Jag einer hatte hineingehen
konnen, and Dr. Harms Eppelsheimer, der listenreiche Odysseus des
deutschen Bibliothekswesens, schon garnicht. Dali Heuss ihn mit einem
hohen Orden bedachte, and dali der von ihm selbst gewahlte Nachfolger
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Eppelsheimers Erbe antrat, fugte denn audi der Feier der Institution
die menschliche Note bei. Sic erst, und eigentlich sie allein, zeigte, da13
der Turmbau voller Druckerzeugnisse eben dock keine rein konservie-
rende Funktion hat. Er ist und wird es hoffentlich bleiben eine Tat-
sache des vorwartssturmenden Geistes, der sich herumschlagt mit den
Hindernissen, die Tragheit und Unterdriickung ihm in den Weg stellen.
Die Universitats-Selbstverwaltung
Wer nach den Wurzeln des europaisdien Freiheitsgedankens fragt,
wird vor allem das ?dialogische" Verhaltnis zu nennen haben, in dem
Herrschaft und Genossenschaft zueinander standen und im Grunde heute
noch stehen - stehen sollten. Im Miteinander-Handeln und Verhandeln
beider Potenzen hat sich deren gemeinsame Macht gebildet. Im Blick
auf die Macht ist radikale Autonomic ein. Unding: Kein Staat vermochte
zu bestehen angesichts eines ,.Ohne mich" seiner Burger - kein Burger,
der ?Geistigste" am wenigsten, vermochte in Freiheit zu existieren, es
sei denn, herrschaftliche Madit schutzte sie ihm.
In diesem Koordinatensystem politischer Grundstrukturen steht un-
ausweichlidi audi das dornige Problem der Selbstverwaltung unserer
akademischen Korperschaften. Alexander Kluge hat ihm ein gerecht
abwagendes Buch gewidmet: ?Die Universitats-Selbstverwaltung. Ihre
Geschichte und gegenwartige Rechtsform". (Frankfurt 1958, V. KIoster-
mann. 264 S. DM 18,-), das durchaus mehr ist als nur ein geschicht-
liches oder juristisches Kompendium. Sein reicher Inhalt kann an dieser
Stelle audi nicht andeutend referiert werden. Fast die erste Halfte der
Darstellung ist den geschichtlichen Urspriingen und Entwicklungslinien
gewidmet.
Ein zweiter Teil behandelt die moderne akademisdie Verwaltung nach
ihren Organen (Fakultaten, Senaten, Rektoren, Rechtsakten). Der dritte
Teil endlich bietet vier Exkurse, die einige der prinzipiellen Fragen
eigentlidi erst stellen und ihre Beantwortung anregen: Wie kann eine
akademisdie Korperschaft sick vor ein.er vergewaltigenden Bevormun-
dung dutch staatliche Herrschaft schiitzen? - Die Bedeutung des Ge-
wohnheitsrechtes (,,Observanz") fur die korperschaftliche Verfassung
einer Institution, die ihrem Wesen nach in ihrer inneren Dynamik ih.re
?Freiheit" hat, wie unlangst Marchionini hier ausfuhrte (DR 2/59). --
Wie aber steht es heute mit dem Recht staarlicher Behorden, Statuten zu
erlassen, Rechts- und Dienst-Aufsicht zu uben?
Im Obergang vom historischen zum systematischen Teil erwahnt A. K.
in keuscher Kiirze die Vergewaltigung der deutsdien Universitaten
dutch den Nationalsozialismus. Dann heif3t es fur die Neuansatze nach
1945: ?Es war Gemeingut, daf3 nach dieser Katastrophe - in einem
nosh hoheren Male als nach 1807 - eine Besinnung auf die geistigen
Werte und in diesem Rahmen eine nicht nur aul3erliche Universitdts-
reform zu wunschen sei." (S .101) Uns sdceint, da13 an dieser Stelle noch
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einmal anzusetzen ware: Woher rdhrt es, dais 1933-1945 die deutschen
Universitaten, die ?Genossenschaften" der ?Ge'istig.-Freien" and fiir die
Freiheit des Geistes and der Bildung Verantwortlichen, nidit um der
Freiheit willen Widerstand zu leisten vermocheen? Gewifs - dieses
,,Vermogen" ist vielschichtig and vielgesichtig. Seit der Zeit des Abso-
lutismus besitzen die Hochschulen ja nicht mehr die Moglichkeit zu
effektivem Selbstschutz (sofern sie sie je besafsen). Sie verdanken bis
heute ihre Freiheit - wenn nicht ideell, so doch faktisch, and auch da,
wo sie in dieser Freiheit auf these Freiheit ?nonkonformistisch" ant-
worten - der staatlichen Schutz-Macht. Blieb aber nach 1945 nicht
dennoch bei vielen ihrer Mitglieder ein Trauma ob des Schweigens in
den bosen Jahren? Hat in diesem Schweigen nicht auch die Tradition
des idealistischen Gedankens einer aufler-politischen Bildung rich aus-
gewirkt, die sick im Schutze machtiger Nationalstaaten den Luxus einer
prinzipiellen Aversion gegen die Macht als solche (Burckhardt!) leisten
zu konnen meinte?
So send es gewifs nicht nur historische oder rechtliche, sondern auch
gewichtige psychologische Faktoren, die das heutige Problem so dornig
machen, wie in fruchtbarem Gesprach (?Dialogik") zwischen der herr-
sdiaftlich-staatlidien and der genossenschaftlichen Instanz beider ge-
meinsame Freiheit immer wieder neu zu verwirklichen ware. Hier
bleiben nur nosh die Bemerkungen des Beginns fiber die Wurzeln der
europaischen Freiheit zu erganzen: Die Forderung des Delphischen Apoll
?Erkenne dick selbst!" zielt auf jenes kritische Verhalten, das nicht
?Verhaltnisse" oder auch ,Traditionen" fur das richtige Entscheiden
freier Geister verantwortlich macht. Geschichte and Anthropologie leh-
ren, dais nur im Gesprache wechselseitiger ?informat.io", deren Partner
rich setbst erkennen, indent sie sich jeder am anderen ?bilden", Freiheit
als Ertrag des Miteinander-Handelns von Herrschaft and Genossenschaft
gewonnen and erhalten wird.
Der Hag der Friedhofsschander
Die Geschichte der Friedhofsschandungen ist eines der argsten Ka-
pitel in der jungsten Geschichte Deutschlands. Sehen wir einmal von
den Schandungen katholisdier oder protestantischer Friedhofe ab, die
aus einem anarchistischen Drang ebenfalls vielfach von solchen perver-
tierten Ruhestorern geschandet wurden, so waren es nach dem Ersten
Weltkriege and vor allem in den letzten Jahren immer wieder judische
Friedhofe, die zerstort, entweiht and gesdiandet wurden. Seit 1948 bis
heute ist - nadi einer Feststellung des Gewerkschaftsblattes ?IG Me-
tall" - jeder zehnte jadische Friedhof in der Bundesrepublik geschandet
worden, namlich 178 Friedhofe von 1700 bestehenden. Diese erschrek-
kende Zahl laf3t sidi nicht mehr mit naiven Aktionen von spielenden
Kindern", die riesige Grabsteine umgeworfen haben sollen, Oder aus
schliefslith mit kommunistischen Diversantenstreidien reklamieren. An-
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gesichts der Amberger Friedhofssdf ndung, wo nachtlich an den Auf3en-
mauern des jildischen Friedhofes Hakenkreuze and antisemitisdze Pa-
rolen aufgemalt wurden, durfte eine hist:orische Analyse dieser inneren
deutsthen Schande am Platze sein. Von 1923 bis 1932 wurden in
Deutschland 128 judische Friedhofe and 50 Synagogen geschandet.
Damals waren es bereits meistens Angehorige der NSDAP oder ihr
nahe stehender Verbande. Man staunt heute, nachdem dieses tYbel wieder
in alter Frische aufgelebt ist, fiber die Milde der Urteile in der Weimarer
Republik. Im September 1924 verurteilte das Amtsgericht Gottingen
ein Mitglied der NSDAP zu 300 RM Geldstrafe, weil es einen Kranz
an einem Gefallenendenkmal des Reichsbundes judischer Frontsoldaten
geschandet hatte. Im Januar 1928 warf ein Mitglied dieser Partei in
Gerolzhofen bei Schweinfurt Grabsteine judischer Graber um and be-
schmierte die Leichenhalle des Friedhofs mit Hakenkreuzen. Er bekam
2 Monate Gefangnis mit Bewahrung. Am 23. Juni 1930 besudelten funf
NSDAP-Manner die Synagoge am Kottbuser Damm in gemeiner Weise.
Das Schoffengericht Berlin sprach damals imtnerhin je funf Monate Ge-
fangnis aus.
Typisdi war die Schandung des judischen Friedhofs von Trebnitz
(Niederschlesien), wo im November 1930 34 Gedenksteine mit Haken-
kreuzen besudelt, die Fenster der Leichenhalle zertrummert, die Hal-
lenwande mit Kreuzen beschmiert, Galgen mit der Umschrift ?Duda
verrecke!" aufgemalt wurden. Damals versuchte sich die NSDAP-Orts-
gruppe Trebnitz nosh heuchlerisch von den Tatern zu distanzieren. Die
NSDAP scheute sich nicht, im ,Trebnitzer Anzeiger", als die Emporung
der Cffentlichkeit zu gro13 wurde, eine Annonce mit der Aussetzung
einer Belohnung fur die Ergreifung der 'later zu veroffentlichen. Diese
Form der heuchlerischen Taktik ist gewissen Strategen der NSDAP in
der Presse wohl bis heute erhalten geblieben. Am 5. Juni 1931 wurden
sogar Kindergraber in Sdiriesheim (Bergstraf3e) geschandet. Hier er-
hielten die jugendlidren Nazis eine Strafe von 14 Tagen Gefangnis. Der
einstige ,Zentralverein deutscher Staatsburger judischen Glaubens" hatte
1932 these Schandungen in einer Broschure ?Dokumente der politischen
and kulturellen Verwilderung unserer Zeit" aufgezhlt. Ihr Resume
wurde 1959 im Fischer-Band Nr. 264 (,,Die Zerstorung. der deutschen
Politik") wieder abgedruckt. Die Broschiire erschien damals in Berlin
W 15, Emser Strafle 42. Niemand ahnte, was sich auf dem Wege, den
die wusten Schandbuben gingen, die auf Friedhofen Amok liefen, node
ergeben wurde. Der Weg nadi Auschwitz and Theresienstadt war ange-
treten. Die Ideologie der Friedhofsschander trug bei den Hoess, Schu-
bert and Schulze ihre Frnchte.
Der Friedhofsvandalismus gehort zu den charakteristischen Kennzei-
chen einer feigen, demoralisierten, verhetzten and krankhaften Rotte,
die den offenen Widerstreit mit den zeitgeschichtlidren Kraften scheut.
In den nachtlidi and heiinlich vorgenommenen Aktionen entdedtt mark
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ein psychologisches Moment der inneren Unsicherheit, vor allem der
Tarnung entfesselter Triebe im Staate einer Zwangsmeinung and
Uffentlichkeits-Horigkeit. Man hiitet sich, der eigenen Meinung, Aus-
druck zu geben, schandet im Dunkeln Graber and Kulthallen solcher
Konfessionen and Gruppen, die als ?Schuldige" der eigenen unzureichend
bewaltigten Lebensproblematik empfunden werden. Hier erfullen die
jiidischen Friedhofe den deutlichen Zweck eines Hexenjager-Symbols.
128 Friedhofsschandungen von 1923 bis 1932. 178 Friedhofsschandungen
von 1948 bis 1959 - die Zahl lath erschrecken!
Ist bier wieder ein Weg angetreten, der in Verderben and Schande
fuhrt? Wieder ist es die Selbstschuld, die deutsche Menschen in eine
HaI aktion gegen Tote treibt, weil sie aus Selbsthafi nicht mit dieser
Schuld fertig werden konnen. Wieder schleichen bei Nacht Friedlose mit
Farbtopfen and Stahlwerkzeugen uber judische Friedhofe, um zu zer-
storen and zu besudeln. Wieder freuen sich am Tage ham?isch Psycho-
pathen uber ihr Zerstorungswerk and feiern den ?Sieg" ihrer List".
Man achte nur darauf, wieviele Hakenkreuze auch auf den offentlichen
Toiletten angeschmiert werden; wahrend es sich hier wenigstens nicht
gegen eine ehrfurchtgebietende Statte richtet, ist die Friedhofsschandung
ein von alien Kulturvolkern verachtetes Delikt.
Umso begluckender ist eine Aktion, die die Schuler der oberhessischen
Kleinstadt Helmarshausen mit der standigen Pflege eines judischen
Friedhofes ubernommen haben.
Wo andere schmieren and zerstoren, werden hier Grabsteine, auf
denen hebrasische Buchstaben stehen, die die Sdiuljuungen nicht lesen
konnen, in gutem Willen wieder aufgerichtet and vergessene Graber,
deren Angehorige vielleicht langst ni~cht mehr leben, gepflegt. Die Aktion
wurde zur ?Woche der Bruderlichkeit 1959" begonnen, and der BUrger-
meister Krug erklarte dazu: ,Keiner wird als Antisemit geboren, son-
dern hochstens dazu erzogen. Deshalb mussen unsere Schulen ein echtes
humanistisches Geschichtsbild lehren."
So zeigt sick einmal in einem positiven Zusammenhang die Verkettung
zwischen den Thesen des Lehrers Zind and der Fernaus and der graf3-
lichen Friedhofsschandungen and andererseits die Haltung eines Direk-
tors Krug and der hilfsbereiten Pflege jiidisdier Grabsteine durch eine
in humanistischem Geiste erzagene Schuljugend.
An ihren Taten wollen wir tie audi in Zukunf't erkennen. Mehr, als
an ihrem Reden.
Eine neue Art von Radiodemokratie
In einer sehr schonen, von philosophisdien Spitzfindigkeiten unbe-
helligten Gebirgsstadt Amerikas hat der Wettbewerb im Rundfunk-
wesen ungewohnliche Formen angenommen. Man ist auf die Idee ge-
kommen, die Horerschaft zu ihren eigenen Stars zu machen. Seit Wochen
gibt es in besagter Stadt ein von acht Uhr abends bis Mitternadit wah-
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rendes, ,,Towncrier" geheif3enes Programm, in dem ein stimmgeschulter
Conferencier die Hdrerschaft einladt, eine gewisse Telefonnummer an-
zurufen, um Anfragen, Bemerkungen, Ansichten and Probleme inner-
halb der von verschiedenen Firmen schirmherrlich gepflegten Stunden
einem breiten Publikum bekanntzugeben.
Ruft man uns tatsadiich an, so meldet sich der Towncrier, and so-
bald man ins Telefon zu sprednen beginnt, hart man im Radioapparat
seine eigene Stimme. Dieser technische Einfall hat sofort begeisterten
Widerhall gefunden. Das Rundfunktelefon ist unausgesetzt belagert.
Der Conf6rencier verhalt sich dabei so wie der Inhaber einer klein-
stadtisdien Gemischtwarenhandlung zu Lincolns Zeiten, als man an Win-
tertagen um den eisernen Ofen herumsaf3, politisierte, Merkwurdigkeiten,
sowie Ratsdilage austausdite and sich die Zeit vertrieb. Der Besitzer
stimmte naturlich grundsatzldl mit jedem uberein. Der Confbrencier
tut ein gleiches. Er gibt aber nie eine Meiinung zum besten, sondern be-
gniigt side mit W3rtern wie ?Wirklich?!", ?Interessant!", ?Merkwilrdig".
Da telefoniert etwa ein unerschrockener Geist, um sich zu erkundi-
gen, wer gleich ih.m fiber die Unbestreutheit vereister StraI en ungehalten
ist. Sofort meldet sich eine wurdige Stimme and stellt pers3nlidv fest,
daf3 seiner personlichen Meinung nadi der Kostenaufwand in keinem
Verhaltins zur vorgeschlagenen Leistung stiinde, da die Sonne einige
Stunden spater eine etwaige Gefahrdung des Verkehrs gratis beseitige.
Ein anderer pflid tet bei and beklagt sidh bei dieser Gelegenheit uber
die mangelnde Fahrkunst mancher, wenn auch. vereinzelter Vertreter
des weiblichen Geschlechts, die auf die Bremse traten, anstatt vom drit-
ten auf den zweiten Gang umzuschalten. Jetzt ist man in vollem
Sdiwung.
Mit deco Brustton gerechtsamer C7berzeugung meldet sick ein Sprach-
pionier, der die eben vernommene, auf die side ohnedies aufopfernde
Fran, gezielte Anklage hundertprozentig abweist, er selbst fuhre eine
gludcliche Ehe, babe sieben Kinder, die er alle aufs College zu schidten
gedenke, damit es ihnen dereinst besser ergehe als ihm, and seine Frau
habe nosh; nie einen Verkehrsunfall erlitten. Man lebe in einem freien
Lande mit Gleichberechtigung der Frauen.
Der Conf?rencier sags Behr freundlich Sehr interessant!", wunscht
dem unerschrockenen Vorkampfer alles Gute auf seinen ferneren Lebens-
weg and meldet rich sdion fur die nachste Stimme, die dunn beteuert,
alles 10bel and jed~e Meinungsversduedenheit lief3e side beseitigen, wenn
man nur eifriger die Bibel lesen wollte. Als a propos fragt sie an, ob
jemand vielleicht zufallig wisse, wie man ?Picnic" budistabiere. Augen-
blidilidi,ruft ein Hirer an, der seine Kompetenz dadurch erweist, daft
er in seiner Freizeit W3rterbucher and Lexika liest. Er buchstabiert das
Wort falsdi, der Conferencier sagt ?Sehr interessant!", aber der Fadi-
mann wird unsicher and langt nach seinem W3rterbuch, blattert ge-
rauschvoll darin herum, budistabiert riditig and liest die Definitionen
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laut vor, wonach er fragt, ob es etwas Interessanteres im Leben Babe,
als sick zu bilden. Irren sei menschlich and Menschen seien wir alle.
Dagegen laf3t side kein Argument finden and der Conferencier sagt
?Gewif3!"
Um eine Atempause einzuschalten, gibt der Conferencier einige kom-
merzielle Schirmherren bekannt and legt die Schallplatte Sweet Love"
auf. Er teilt audn mit, daf3 er sich zwei Minuten vom Mikrofon entferne,
um Coca-Cola (jam, jam) zu trinken.
Nach seiner Riickkehr telefoniert ein Madchen mit hauchumflorter
Stimme, daf3 sie das Programm ausgezeichnet, den Conferencier wun-
derbar finde. ?Danke", sagte der Conferencier and meldet sich als
Towncrier sofort wieder. Eine gebieterische Frauenstimme will wissen,
welche personlidne Einstellung der Towncrier in Sadien der vereisten
Straf3ert babe. Geistesgegenwartig sagt er, das hange vom Wetter ab.
Von welchem Wetter, beharrt die Dame. Vom ortlichen. Und weil man
gerade vom Wetter spredne, fallt es ihm ein, die Wettervorhersage an-
zukundigen. Dieser objektive, dieser vorbildlich objektive Bericht lost
bedauerlicherweise wieder einige Anrufe hinsiditlich der vereisten Stra-
13e aus, auf der so mancher erziehungsbedurftige Fahrer andere Auto-
mobilisten gefahrde.
Nun erkundigt sick ein alter Herr nach dem Privatleben des Con-
ferenciers. Geschmeichelt fragt der Conferencier, ob das den alten Herrn
wirklich interessiere. Naturlich, sagt der alte Herr. Er habe keines, memnt
der Conferencier, er sei fur die Dffentlichkeit da. Beten Sie, beten Sie
recht fleif3ig, ermahnt ihn eine Greisin, and ein Mdchen (wahrschein-
lich dasselbe wie vorher) gesteht, daf3 sie sterbensneugierig sei zu er-
fahren, wie der Towncrier aussehe. ?Sehr interessant!" bemerkt dieser
mechanisch.
So geht es weiter. Die Freuden der Radiodemokratie Sind unerschopf-
lich. Knapp vor Programmschluf3 ruft noch eine Getreue an. Sie Liebe
das Programm, das sie selbst beim Einschlafen nicht versaume, weil es
das Volk so sehr zu Wort kommen lasse. Es sei sein getreuer Horspiegel.
Niemand sei mehr als der andere; denn alle Menschen seien gleich ge-
boren, wie es schon in der Uinabhangigkeitserklarung hielme. Probleme
batten wir alle. Durch Diskussion and Erziehung konne man die mei-
sten leicht losen. Dazu trage das Programm verdienstvoll bei. Es sei
sein eigenes Publikum. Und sehr erzieherisch.
Otto Freiherr von Taube
Im Gesprach mit Studenten oder mit sehr jungen Literaturbeflissenen
kommt sehr haufig die Frage auf, wie es mit dem Verhaltnis vom Le-
ben and Werk in der deutschen Gegenwartsliteratur bestellt sei. Nicht
selten werden dann die Bedenken vorgebracht, die sick aus friiher, erster
Bekanntschaft mit einem bewunderten Autor ergeben. Oft genug
schwingt Ratlosigkeit mit, wie die storende Diskrepanz von literarischer
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und personlicher Erscheinung, urn es ganz kraf3 zu sagen, von literari-
scher und menschlicher Substanz zu bewiltigen sei. Das Problem ist alt
und unlosbar. Intellektuell.e und menschliche Bedeutung fallen eben
nicht notwendig zusammen; wo es geschieht, haben wir dankbar zu sein.
Geht man aber den einzelnen Beispielen, die in einem solchen Gesprach
vorgebracht werden, nach, so zeigt sich immer wieder, da13 die kostliche
Einheit von Werk und Autor nicht von ungefahr kommt. Die HUlle,
die sie birgt, ist Erziehung, Selbsterziehugn, Ma13 und Wert.
Otto Freiherr von Taube, der am 21. Juni 1879 in Reval geboren
wurde, als Knabe nach Deutschland kam und schon bald vierzig Jahre
in Gauting vor Munchen ansassig ist, bietet uns das Bild solchen Eben-
maf3es in schoner Vollendung. Den Lesern der Deutschen Rundschau seit
Jahrzehnten verbunden durch die kluge Ausgewogenheit seiner Bei-
trage, hat Otto von Taube besonders in der garstigen Zeit der Hitler-
jahre durch seine Haltung gestarkt, was an Sittlichkei nosh vorhanden
war. Sinn fur Form belebt seine Bucher, und in der Auswahl, die sein
Verleger zum 80. Geburtstag des Dicliters veranstaltet hat (,,Ausge-
wdhlte Werke", Hamburg, Wittig-Verlag. 480 S. DM 12,-), zeigt sick
der Geist des Erhaltens, des demutigen Fortbildens im Glauben der
Vater. Unbedingte Rechtlichkeit zeichnet v. Taube aus. Revoluzzertum
ist ihm so fremd wie das unredliche Spiel mit politischen Mythen und
das gesalbte Heideptum gewisser Heimat- und Landschaftsromane. Er
ist ein zu nobler Schriftsteller, um sick auf dergleichen einzulassen, wie-
wohl der Niedergang des adligen Landlebens eines seiner Hauptthemen
ist. Otto von Taubes Romane und Erzahlungen haben stark autobio-
graphische Zuge, die Autobiographie im Sinne einer eigenartigen Kunst-
gattung erscheint Im alten Estand" (1949) unvergleichlich tradiert.
Weltmannische Gelassenheit spricht aus dem Werk, dessen breite Bil-
dungs-Grundlage in den Ubersetzungen aus dem Franzosischen, Eng-
lischen, Italienischen, Spanischen, Portugiesischen und Russischen sichtbar
wird.
Furwahr ein exemplarisches Leben und ein hochst eigenwilliges Werk,
dem wir von Herzen wunschen, daf3 es fortdauern moge zu unser aller
Erbauung.
Peter Suhrkamp 1
Der Tod von Peter Suhrkamp bedeutet fur seinen Verlag und fur
das gesamte geistige Deutschland einen schweren und fast unersetzlichen
Verlust. Am 28. Marz 1891 aus oldenburgischem Bauerngeschlecbt ge-
boren, wurde er zunachst Volksschullehrer, spater Studium an der Uni-
versitat Heidelberg, dann Dramaturg und Regisseur am hessisdien Lan-
destheater Darmstadt, Leiter der Freien Schulgemeinde Wickersdorf und
Redakteur im Ullstein-Verlag. 1933 ubernahm er die Herausgabe der
?Neuen Rundschau" im Verlag S. Fischer, und nach der erzwungenen
Emigration von S. Fischer die Leitung des Verlages. Eine Aufgabe, die
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bei der Feindschaft der Nationalsozialisten grade gegen den S. Fischer
Verlag and seine Autoren ihm grofite Sdiwierigkeiten and Anfeindun-
gen zuzogen, die er gefalit ertrug. Infolge der Denunziation des Dr.
Reckzeh, der den ganzen Solf-Kreis angezeigt hatte, wurde Suhrkamp
1944 verhaftet and ins Konzentrationslager Sachsenhausen, spater Ra-
vensbruck i berfuhrt. Durch die lange Haft litt seine nicht feste Gesund-
heit schwersten Schaden, von dem er sich nie wieder ganz hat erholen
konnen.
Aus seiner Lehrertatigkeit, die einem inneren Ruf entgegenkam, be-
hielt er das oft eigenwillige Verantwortungsgefuhl fur die Erziehung
nicht nur der Jugend, sondern auch der erwachsenen Deutschen.
Nach dem Zusamnlenbruch and der Riickkehr der Erben des S. Fischer
Verlages trennte er sich von dem Unternehmen, fur das er so opfervoll
gekampft hatte, and grundete einen eigenen Verlag. Zu seinen Autoren
gehoren u. a. Hermann Hesse, T. S. Eliot and Bernhard Shaw, ebenso
Rudolf Alexander Schroder, zu dessen 75. Geburtstag er die Gesamtaus-
gabe seiner Werke veranstaltete, Hermann Kasack, Ernst Penzold, Hans
Erich Nossak, Max Frisch, Marcel Proust, Gunter Eich and Bertold
Brecht. Seine Arbeit war von hochster Verantwortung gegeni ber dean
echten Geist getragen. Er hat niemals nach Bestsellern gesucht and hat
fur seine Autoren viele Opfer gebracht. Bei der Verarmung des deut-
schen Verlages an Persanlichkeiten von Rang war seine Arbeit von be-
sonderer Wichtigkeit, wie auch sein Lesebudh ?Deutscher Geist" and
die Bibliothek Suhrkamp bestatigen.
Der durch die lange Haft ins Mark getroffene Peter Suhrkamp,
Dr. h. c. der Universitat Frankfurt, Inhaber der Goethe-Plakette and
Ehrenmitglied der Deutschen Akadenhie fur Sprache and Dichtung, hat
im Kampf mit seiner Krankheit unbeirrt and in tormentis seine grofe
Leistung fortgesetzt. Das geistige Deutschland wird ihn, der es mit Bich
selber nicht leicht gehabt hat, and rein Werk nicht vergessen.
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OTTO LEHMANN-RUSSBOLDT
Die weltpolitische Aufgabe
der kleinen Nationen
Zum Kriegmadien genugt immer nur einer, zum Friedenhalten. aber
mindestens zwei.
Wer hat es nicht sdion erhebt, daf3 in einem Verein ein Stankerer auf-
springt, der alle Bemuhungen, ein bestimmtes Werk zustande zu bringen,
Ober den Haufen wirft - bis man sick dazu entschliei3t, ihn hinauszu-
werfen. Wozu man allerdings auch die Vollmacht and - die Macht
besitzen mug!
So ist die Sachlage auf dem Planeten Erde, wo ein grof3ter Verein,
namlidi der der 82 ?Vereinten Nationen" besteht, der sick am. 26. Juni
1925 in San Francisko ein Statut von 111 Ariikeln gab. Einleitend war
gesagt, daf3 die Volker entschlossen seien, kunftige Generationen vor
der Geif3el des Krieges zu bewahren, die zu unseren Lebzeiten zweimal
unsagbares Leid 'Ober die Menschheit gebracht hat." Dann kommt eine
Speisekarte von leckersten Dingen an ?gleichen Rechten von Mannern
and Frauen, sowie von grof3en and kleinen Volkern", von ?sozialem
Fortschritt and besseren Lebensbedingungen".
3 Monate nach Unterzeichnung dieses Vertrages fielen zwei Atom-
bomben auf Hieroshima and Nagasaki in Japan, deren Opfer Hundert-
tausende der Zivilbevolkerung wurden. Die geistige Strahlenwirkung
der beiden Atombomben wirkt nicht nur his heute, sondern in die Zu-
kunft hinein. Statt der rich als selbstverstandlich ergebenden and ver-
sprodienen Abrustung geschieht ein Wettriisten in sich steigerndem
Maf3e. Lange Zeit sudite man es vor den Volkern zu versdileiern, daf3
jetzt auf jeden Kopf der 2,4 Milliarden Menschen der Erde I Tonne =
1000 kg Trinitrotoluol entfallt, das jetzt starkste Sprengmittel der Mu-
nition, also mehr als die 6berwiegende Mehrzahl der Mensdien in den
weiten Hungerbezirken der Erde an Nahrungsmitteln kaum zu riechen
bekommt, mehr als auch der gesunde Mensch zeitlebens verbraucht. Al-
lein die Munition! Au1 erdem erhebt sich ein Gebirge an Waffen jeder
Art bis in die Wolken and in die Meerestiefen and wartet darauf, seinen
Daseinszweck zu erfUllen. Jedes Werkzeug, das sick der Mensch als
Sdi6pfer ausgedacht and konstruiert hat, bekommt eine Seele, die sick
betatigen and bewahren will, wie der Besen im Zauberlehrling, der
das ganze Haus statt zu reinigen, zu ersaufen droht, bis der Meister auf
den Hilferuf erscheint and den Besen in die Ecke stellt.
Wo ist der Meister, der hier das sick immer mehr steigernde Wettrii-
sten stoppen and zuruckwerfen kann? General Eisenhower hat nosh
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1955 das Wettrusten in einem meisterhaften Manifest an die Mensdi-
heit" als. das Kerniibel angeklagt, and auch rein Gegner Chruschtschow
lilt nicht nur einmal ein Wort dagegen fallen. Gewifg hat das Hilfs-
werk der 82 ?Vereinten Nationen" das durchschnittlidie Lebensalter um
die Jahrhundertwende mehr als verdoppelt. Vor allem hat die am 12.
April 1957 von Gottingen in Deutschland ausgehende Bewegung ,Kampf
dem Atomtod" eine dutch alle Kontinente gehende, sich steigernde Be-
wegung ausgelost. Ist dadurch aber auch nur das Material einer einzigen
von den rund 50 000 vorhandenen Atombomben fur ?friedliche Zwecke"
umgewandelt?
Allen Bemuhungen, das Wettrusten durch die Abrustung zuruckzu-
werfen and dadurch ;die Menschheit von der Geifgel des Krieges zu be-
freien", wird durch den Einspruch eines Mitgliedes ohne nahere Begrun-
dung ein Ende gesetzt. Es war wie ein Gesdienk des Himmels, daf3 im
Herbst 1957 bei Anlauf des erklarten Krieges zwisdien Frankreidi-Eng-
land-Israel gegen Agypten der kanadische Aufgenminister Lester Pear-
son die Aufstellung einer Polizei-Truppe der ?Vereinten Nationen" von
6000 Mann durchsetzte, die auf dem K.ampfplatz eingesetzt wurde and
schon durch ihr Erscheinen eine fortschreitende Beruhigung herbeif{ hrte.
Lester Pearson erhielt darauf 1958 von Oslo den Friedens-Nobelpreis.
Gleich in Art. 2 des Statuts der ?Vereinten Nationen" von San Fran-
zisko Juni 1945 heifgt es: ?Die Organisation beruht auf dem Grundsatz
der souveranen Gleichheit aller ihrer Mitglieder". Dieser Artikel bietet
die Handhabe dafiir, dalg jedes Mitglied der ?Vereinten Nationen" jede
ernsthafte Mafgnahme fur die Abrustung durch ein einfaches Nein zu-
nichte machen kann. Das wurde die Regel wahrend der 14 vergangenen
Jahre der Beratungen caber das AbrUsten. Alle die von Gewerksdiaften
and Friedensvereinigungen vorgebrachten Appelle an die Generalver-
sammlung der ?Vereinten Nationen" wurden hoflidi. angehort and hof-
lidi achselzuckend quittiert.
Wo ist eine Macht, die innerhalb der ?Vereinten Nationen" so macht-
voll auftreten kann, dafg die Weltorganisation der Vereinten Nationen"
in New York dazu Stellung nehmen mui? Das Sind die kleinen Natio-
nen! In beiden Weltkriegen richtete rich bei Ausbruch der Kriege der
orate Angriff der Grofgmachte garnicht gegen den Gegner, sondern gegen
dazwischenliegende kleine Volker. Im Ersten Weltkrieg erklarten ister-
reich and Deutschland den Krieg %gegen Rulgland and dann gegen Frank-
reich. Der Angriff tisterreichs ging gegen Serbien, der Deutschlands
gegen Belgien, weil Deutschland auf dem Marsch auf Paris nid t die
starke franzosisdie Festungskette im Sturm nehmen wollte, sondern durch
das neutral erklarte Belgien sofort eindrang. Gewifg, dasgelang, aber
auf Kostendessen, dafg England seine Garantieverpflidrtung unerwartet
erfUllte and den Krieg an Deutschland erklarte. Damit war der Krieg
strategisch am ersten Tage verloren. Im Zweiten Weltkriege derselbe
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Verlauf. Nachdem Hitler in Munchen von den Englandern die Tsdiecho-
slowakei geschenkt bekam, glaubte er, auch Polen so billig dazu zu be-
kommen. Er ruckte mit Billigung Sowjetruglands ohne Kriegserklarung
ein, um ?die in Polen lebenden Deutschen zu befreien". Schweratmend,
aber fest entschlossen erfullte England wieder seine Garantieverpflichtung
and erklarte den Krieg an Deutschland. Als Ribbentrop Hitler die
Kriegserklarung vorlegte, brachte es dieser nur zu dern gequalten Ausruf:
,Was machen wir nun?"
Damit war auch der Weltkrieg schon im Anlauf fur Deutschland stra-
tegisch verloren. Im weiteren Verlauf dieses Krieges: wurde auger Polen
die ganze Kette der kleinen Nationen bis Rumanien ,angesdilossen".
Die drei baltischen Nationen waren schon nark dem Ersten Weltkriege
allmahlich in die Abhangigkeit der Sowjetunion geraten; allein Finnland
konnte sich bisher durch Politik and auch durch militarischen Kampf
verhaltnismagig freihalten.
Kommt es zu dem befurchteten kriegerischen Zusammenprall von Ost
and West, so wird er voraussichtlich in Mittel-Europa einsetzen. Dies-
mal wurden von vornherein die Beneluxgruppe, also Belgien mit Lu-
xemburg, Holland and die skandinavische Gruppe Norwegen-Schweden-
Danemark hineingerissen werden. Audi ein kleinstes Land, die Stadt
West-Berlin wurde in dern Sumpf von Blut and Eiter durdi die her-
kommlichen and nicht herkommlichen Waffen and anderen bisher ver-
borgen gehaltenen Waffen geraten.
Das sind keine Angsttraume eines Pazifisten, sondern die Auslassun-
gen von bewahrten Generalen wie Eisenhower and MacArthur (1955).
Diesmal wurden auch die neutralen Staaten Schweiz and Sdiweden,
die sick wahrend der beiden Weltkriege heraushalten konnten, dem
Mahlstrom nicht entgehen. In Voraussicht dessen verlangen gerade these
beiden kleinen Volker am Eindringlichsten nach Atomwaffen, weil sie
wissen, dag man mit den herkommlichen Waffen nur den Appetit des
grogen Volkerfressers Krieg am meisten anreizt. Aber - es gibt keine
Landesverteidigung mehr. Der Zukunftskrieg ist exakt in dem Bild aus-
gedrUckt, auf dem in einer Flasche zwei Skorpione eingesperrt sind, die
sick zu ernahren suchen, indem sie sich gegenseitig auffressen.
Die kleinen Nationen haben als vollberechtigte Mitglieder die Voll-
macht, in der Versammlung der ?Vereinten Nationen" auf eine Be-
schlu1 fassung zu dringen, die dem Wettrusten nicht nur ein Ende setzt,
sondern die Abrustung merkbar and schmerzhaft fiihlbar fur die Ru-
stungsindustrie macht. Jeder politische Analphabet aus jedem Volke, der
einen offenen Kopf hat, fiihlt instinktiv, dag die Riistungsindustrie der
entscheidende, treibende Faktor der zum Kriege treibenden Krafte ist.
Stehen einmal die Waffen da, so verlangen sie wie jedes Instrument die
Erfiillung ihrer Zweckbestimmung.
Deshalb ergeht hiermit der Appell eines Weltburgers an die kleinen
Nationen Europas, insbesondere an die Beneluxgruppe and an die skan-
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dinavische Gruppe, im Gremium der Vollversammlung in New-York
einen Beschlufs zu fassen, dais die versprochene Abrustung fiihlbar ein-
geleitet and bis auf den Grund durchgefiihrt wird. In der skandinavi-
schen Gruppe wurde Anfang des Jahrhunderts ein Beispiel dafdr gege-
ben. Schweden and Norwegen waxen nach jahrhundertelangen Kampfen
schon seit Napoleons Niederbruch zur Ruhe gekommen and durch die
Personal-Union des Konigs in Stockholm verbunden. Um 1903 entwik-
kelte sich ein Streit urn die Thronfolge. Die Norweger kundigten dem
gerneinsamen Konig die Gefolgschaft durch eine friedliche Revolution
durch eingeschriebenen Brief. Schweden machte mobil, deren Arbeiter-
partei rief zum Militarstreik auf, weil ?kein Angriffskrieg" vorlage. Da
auch der schwedische Konig nicht kriegslustern war, so kam es zu einem
Vergleich, also zu keinem Friedensvertrag, weil nosh kein Krieg im
Gange war. Es wurde abgemacht, dais an den Grenzen keine Soldaten
Wache stehen sollten. Ein gleiches Abkommen war sdion hundert Jahre
friiher zwischen den jungen Vereinigten Staaten von Amerika and Ka-
nada getroffen warden and bewahrt sick his heute, ebenso wie ein glei-
ches Abkommen in Sii.d-Amerika zwischen Argentinien and Chile zur
gleichen Zeit nach 1900, wie das zwischen Schweden and Norwegen. In
Norwegen wurde die Festung Friedrichshall, eine Verteidigungswaffe,
unter internationaler Kontrolle geschleift. Wenn Soldaten an einer
Grenze zum ?Schutze des Vaterlandes" stehen and seien es Mitglieder
von Pazifistenvereinen, so ist jeden Augenblick die Gefahr eines Grenz-
zwischenfalls gegeben.
Den in Skandinavien so bewahrten Zustand an alien Grenzen herzu-
stellen, ist das Ziel, dessen Erreichung die ?Vereinten Nationen" in
New-York ansteuern mussen. Der erste Schritt dazu ist der, dais die
Bestimmung in Art. 2 der Satzung: Die Organisation beruht auf deco
Grundsatz der souveranen Gleichheit aller ihrer Mitglieder" eine ent-
sprechende Modifikation erhalt.
Alles das, auch die Aufstellung einer internationalen Polizeitruppe
von rund einer halben Million ist schon im britischen Parlament auf eine
Anfrage der Arbeiterpartei vom Kriegsminister vertreten worden, ebenso
in Nord-Amerika vom Bankier Warburg and dem General Bradley,
der die schwierige Landung der Streitkrafte in Nordfrankreich durch-
fiihrte. Bradley unterstrich es in seinem offentlichen Vortrag in New
York: ,Wollen wir zu dem. versprochenen Friedenszustand auf der Erde
kommen, so mussen wir erhebliche Opfer an nationaler Souveranitat
aufbringen, also eine grofsere Leistung als einen Sputnik in den Welten-
raum zu senden."
Aber - auch das wird verhallen, wenn nicht die kleinen Nationen,
insbesondere die in Mittel-Europa, die Initiative ergreifen, um die Or-
ganisation der Vereinten Nationen in New York zur Erfullung ihrer
Versprechen zu zwingen: die Menschheit von der Geifsel des Krieges zu
befreien.
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Priifstein Guinea
Wahrend die beiden deutschen Delegationen in Genf stumm aneinan-
dervorbeisehen and wir zu Hause unter dem Eindruck stehen, es werde
im Volkerbundspalais Entscheidendes fur unsere Zukunft erarbeitet,
spielt im schwarzen Afrika die Weltpolitik mit den beiden deutschen
Staaten auf eine Weise, die uns nosh ungewohnt, ja kaum richtig be-
wuf3t ist. Als das fri here Franzosisch-Guinea im vergangenen Herbst
unabhangig wurde, war die Sowjetunion eine der ersten Gro1 madite,
die den neuen Staat anerkannte. Aber nicht die UdSSR, auch nicht Al-
banien, Bulgarien, China, Nord-Korea, die Tschechoslowakei, Rumanien
oder Nord-Vietnam schlol3 den ersten Vertrag mit dem neuen Staat ab,
sondern die Deutsche Demokratische Republik". In der Hauptstadt Co-
nakry wurde am 17. November 1958 ein Handelsvertrag unterzeichnet,
dessen politische Bedeutung der stellvertretende Handelsminister der
Sowjetzone, Eckloff, ausgiebig betonte. Der Plan sah die Unterstutzung
der industriellen Entwicklung Guineas im Austausdi gegen Kaffee, Ba-
nanen and andere landwirtsdiaftliche Giiter im Werte von rund 40 Mill.
DM unserer Rechnung vor. Nun ist ein Handels- and Kulturvertrag
dieses Umfanges gewif3 keine grog e Angelegenheit, aber zu verachten
ist er audi nicht, wenn man den Gesamtumfang des guinesisdien Exports
in Betracht zieht, die industrielle Verfassung des Landes and seine Ent-
wicklungsmSglichkeiten abschatzt, and weif3, daf3 der sowjetdeutsche
Vorstol3 ' nur als Anfang eines Ablaufes zu gelten hat, der Guinea unter
Umstanden dem Sowjetblock enger verbindet, als dem Westen.
Guinea, ein Territorium von der Gr6f3e der Bundesrepublik, hat etwa
21/2 Millionen Einwohner. Von ihnen gehoren 900 000 zum Stamme der
Peulh, 600 000 zu den Mandingo and 300 000 zu den Soussou. Der Rest
verteilt rich auf Kleinstamme, die politisch nicht hervortreten. Die Zahl
der Weif3en hat side mit der Unabhangigkeitserklarung von knapp 7 000
um etwa zwei Drittel vermindert. Diese secessio plebis hangs mit der
unerwartet rasdien Verselbstandigung Guineas zusammen, die fast wie
tine mittelalterlidie Aufsage an den Lehnsherrn anmutet. Franzosischer
Kolonialbesitz seit dem Ende des 19. Jahrhunderts and 1904 Franzo-
sisch-Westafrika zugeschlagen, bekam Guinea mit der franzosisdien Ver-
fassung von 1946 drei Abgeordnete im franzosisdien Parlament, zwei
Senatoren and vier Vertreter in der Versammlung der franzosischen
Union. 1952 wurde eine territoriale Volksvertretung von 50 Mitgliedern
and ein zwolfkopfiger Regierungs-Rat unter dem Gouverneur gebildet.
Einer der Abgeordneten von 1956 war Sekou Toure, ein Mann von 34,
der im selben Jahr die Rolle eines Innenministers in Franzosisdi-Guinea
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ubernahm and Biirgermeister der jetzigen Hauptstadt Conakry wurde.
Er sollte zum Motor der Souveranitat werden.
Toure, einer verarmten Bauernfamilie aus dem Innern entstammend,
war Ende der vierziger Jahre caber die Gewerkschaften in die Politik
gekommen. Er gehorte zu den Grundern der Gewerksdiaftsorganisation
von Guinea and war Delegierter seiner Heimat bei der Confederation
Generale du Travail, aus der er aber caber dem Verlangen nach Auto-
nomic im Februar 1956 ausschied. In der Wiedervereinigungsorganisation
der westafrikanischen Gewerkschaften (Union Generale des Travailleurs
d'Afrique noire, 1957) hatte er ebenso eine Spitzenfunktion wie im Ras-
semblement Democratique Africain. Mit dieser Partei hatte er sdion
1953 einen erfolgreichen 66-Tage-Streik fur bessere Arbeitsgesetze durch-
gefuhrt. Toures Popularitat ruht also im Groflen and Ganzen auf der
Arbeiterschaft, hauptsadilich der Soussou; die Mandingo sehen in ihm
einen Nachfahren des grofsen Kriegers Almamy Samory, der der fran-
zdsischen Kolonisierung lange widerstand and einer der Missionare des
Islam in Ost-Guinea gewesen ist.
-Der eigentliche Gegenspieler Toures in dem kurzen Sdiauspiel der
Staatwerdung sollte kein Geringerer als General de Gaulle sein. Toure
ist im Grunde nicht antifranzosisdi, wohl aber ehrgeizig and wie die
jungen Liberalen Afrikas and Asiens gewohnlich vom Nationalismus
besessen. In ihren weithin unerschlossenen Gebieten sehen sie grofse Mog-
lichkeiten, die blots der Springwurzel der Industrialisierung bedurfen,
um eine neue Epoche der Menschheit heraufzufiihren. Es liegt in der
Natur der Sache, dais die Lander des alten Nationalismus an dieser Nach-
folgerschaft wenig Freude haben. Dais gerade Frankreich das Mifaver-
gfidgen daran sehr zu seinem eigenen Schaden gelegentlich iibertreibt,
bedarf keiner Erlauterung. Der General de Gaulle, der im August 1958
die franzosischen Kolonien bereiste, war denn auch nicht wenig erbittert,
als er in Conakry einer aufserordentlich gut organisierten antikoloniali-
stischen Demonstration begegnete. Toure verkandete in Gegenwart seines
hohen Gastes einer Volksversammlung, dais die Guinesen ein Leben in
Armut and Freiheit einem Leben in Reichtum and Sklaverei vorzogen.
Der General reagierte sauer. Er sagte ein schon angesetztes Diner mit
Toure ab, konnte aber dessen Landsleuten keine andere Alternative an-
bieten, als Unabhangigkeit oder Mitgliedschaft in der franzosischen Ge-
meinschaft. Er liefs keinen Zweifel dariiber, dais Frankreich alle seine
Hilfe fur Guinea einstellen werde, falls die Kolonie in den bevorste-
henden Wahlen vom 28. 9. 1958 die neue Verfassung zurudiweise and
damit aussdieide.
Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung war, dais Guinea als einzige
der franzdsisdien Kolonien die neue Verfassung ablehnte. Die 95,2 ?/o
Neinstimmen wurden von Sachkennern weniger dem Unabhangigkeits-
drang der Guinesen als der Popularitat ihres Fiihrers zugeschrieben.
Schon am 2. Oktober loste de Gaulle sein Wort ein. Guinea wurde ein
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selbstandiger Staat, der 82. der Vereinten Nationen, and Sekou Toure
sein erster President. Damit trat er zugleich an die Spitze des westafri-
kanischen Nationalismus. Er war fiber Nacht wie Lord Byron beruhmt
geworden, in den nachsten Monaten aber nicht glucklicher als jener.
Die Schwierigkeiten des neuen Staates, die Toure vielleicht nicht in
vollem Umfange vorausgesehen hatte, riihrten von der Konsequenz her,
mit der de Gaulle auch den anderen Teil seines Versprechens wahr
machte. Der Auszug der Franzosen stellte die Verwaltung vor enorme
Personalfragen. Das Versickern der franzosischen Finanzhilfe legte die
Staatskasse trocken. Die Franzosen hatten Verwaltungskosten von etwa
25 Mill. DM, Militarausgaben von 42 Mill. DM zugeschossen, and das
jahrliche Handelsdefizit von einigen 90 Mill. DM mit Hilfe der Franc-
Zone iiberbruckt. Auch die 80 0/0, die Frankreich in den letzten zehn Jah-
ren zu allen langfristigen Entwicklungsarbeiten beigesteuert hatte, fielen
weg. Es dauerte bis ins Friihjahr, ehe erste Wiederannaherungsversuche
bescheidene Erfolge hatten, aber sie konnten and konnen nach Lage der
Dinge nicht zu den alten Hilfen fiihren, die Frankreich seinem Guinea
gewahrte. Das Experiment Toures hat die Augen der afrikanischen In-
telligenz auf Guinea gerichtet. Frankreich mull Guinea anders behan-
deln als die Mitglieder seiner Volkergemeinschaft, wenn es these nicht
entwerten will.
Der neue Staat andererseits mug sehr rasch den Anschluf3 an die Wirt-
schaftsstruktur des 20. Jahrhunderts finden, wenn er nicht untergehen
soll. Guinea ist heute ein Wirtschaftsgebiet mit ewa 700 km Eisenbahn,
and weiteren 250 km im Bau. Von den Straf3en sind 3500 km das game
Jahr befahrbar, etwa 7000 km in der Trockenzeit. Wenn man die Zahl
der Kraftfahrzeuge mit ca. 7000 ansetzt and die der Schulen mit 250,
wird man kauan zu hoch greifen.
Mit diesen Mitteln eine Entwicklung nachzuholen, die in Europa Jahr-
hunderte der Vorbereitung bedurfte, ist nicht mi glich. Guinea braucht
vor allem Hilfe bei der Entwicklung seiner Grundindustrien. Als Schli s-
sel hierzu gelten die sogenannten Boke and Fria-Projekte. Dort mug
mit Hilfe groler Wasservorrate zunechst Elektrizitat erzeugt werden,
um die erheblichen Bauxit-Vorkommen in Aluminiumproduktion iiberzu-
leiten. Kanadische and franz6sische Firmen haben mit dem Werk begon-
nen, aber die bisherigen Investitionen reichen nicht aus. Boke and Fria
ist fur Guinea, was Assuan fur Agypten. Und es scheint, daf3 der
Sowjet-Block das besser erkannt hat als die Dffentlichkeit des Westens.
Fur Toure and seine Gefolgschaft ist die Frage der Elektrifizierung nicht
weniger wichtig, als sie einmal fur Lenin war. Wiewohl kein Kommunist,
hat der marxistische President von Guinea keine echte Chance, eine frei-
heitliche Demokratie in seinem Lande zu errichten, wenn er auf sowje-
tische Hilfe angewiesen ist. Einige seiner Mitarbeiter hangen dem ,,de-
mokratischen Zentralismus" ostlicher Pragung an. Toure selber steht
and fallt mit der wirtschaftlichen Entfaltung.
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Die Frage ist nicht, ob Guinea sick entwickeln wird, oder nicht. Die
reidien Bodenschatze, der Stand der Weltzivilisation, die Vorarbeit
Frankreichs garantieren these Entwicklung. Der Aufstieg des neuen
Staates wird nicht ausbleiben. Das bedeutet aber, daf3 Guinea, gleich den
anderen jungen Nationen, zum Prufstein fur die politische Reife der
alten Staatswesen wird. Wird die westliche Welt ihre reiche innere Glie-
derung zu niitzen verstehen and Guinea fordern? Mit anderen Worten:
Wird die Bundesrepublikanische Auflenpolitik verstehen, daf3 hier eine
Chance fur sie liegt? Als Land ohne koloniale Tradition mit der Mog-
lichkeit grouerer Kapitalexporte kann die Bundesrepublik in Guinea,
and nicht nur dort, neue Partner gewinnen. Laut sie die Gelegenheit
vorubergehen, so kann die Initiative des Sowjetblocks nosh ganz beson-
ders unerfreuliche Folgen fur die deutsche Frage haben: Wie etwa, wenn
sich aus dem Handels- and Kulturabkommen der DDR mit Guinea eine
diplomatische Beziehung entwickelte? Es ist nicht ausgeschlossen, daf3
die auf Anerkennung des Satelliten drangende sowjetische Politik den
Weg fiber Afrika sucht and findet.
ZEITUNGSGEDICHT 1914
Tief im Schatten alter Ri stern
Starren Kreuze bier am dustern
Uferrand -
Aber keine Epitaphe
Sagen an, wer unten schlafe
Kuhl im Sand.
Still ist's in den weiten Auen
Selbst die Donau ihre blauen
Wogen hemmt -
Denn sie sdilafen bier gemeinsam
Die die Fluten still and einsam
Angeschwemmt.
Alle, die sich bier gesellen
Trieb Verzweiflung in der Wellen
Kalten Schoi3 -
Drum die Kreuze, die da ragen
Wie das Kreuz, das sie getragen
Namenlos.
(Zuerst abgedrudtt in der Wiener ?Reichspost" vom 24. April, 1914)
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ROSEMARIE WINTER
Jugend, Reisen und Romane
Ein Volk der Leser ?
Ein Uberblick uber die Leserfrequenzen der westdeutschen Volksbu-
chereien ergibt, dag im Durchschnitt heute ca. 5 Prozent der Bevolke-
rung die Einrichtung der Volksbucherei benutzen. Im einzelnen rangiert
das von 1,5 Leserprozenten in der erst vor sechs Jahren neu errichteten
Memminger Volksbiicherei bis zu 10 Prozent der Augsburger oder der
Stuttgarter, die das Erbe Holderlins heute als lesefreudigste Stadte des
Bundesgebietes anscheinend nach wie vor hochhalten. Ist es dock auch
die Stadt am Neckar, die mit Stolz melden kann, dag man dort sogar
noch Gedichte liest, und zwar nicht etwa nur Frauen und Jugendliche.
Den gr6f3ten Prozentsatz der Gedichtleser bilden Manner. Andererseits
kann von beinahe ausnahmslos jeder einzelnen Bucherei festgehalten
werden, da.9 in letzter Zeit bei allseits steigenden Leserzahlen das
Schwergewicht des Interesses immer mehr von der schongeistigen Lite-
ratur zur sogenannten Sachliteratur gewechselt hat. Dabei spielt die Be-
teiligung der Jugend keine geringe Rolle. Sic hat tatsachlich dberall zu-
genommen. In einer Stadt wie Mannheim betragt sie sogar mit
127 905 Jungen und Madchen 64 Prozent der gesamten Leserschaft. Der
Leiter der dortigen Volksbiicherei darf es sich zugute rechnen, daf3 jedes
4. Mannheimer Schulkind Leser der von ihm gefiihrten Bibliothek ist.
Ein weiterer Zug zum Sachbuch ergibt auf3erdem die gewif3 beachtens-
werte Feststellung, daf3 die Leserschaft vor allem in der Gruppe der Ar-
beiter und Handwerker ganz entscheidend zugenommen hat. Um so
erstaunlicher ist die Tatsache, dag die Entleihungen an unterhaltender
Literatur in schwacherem Maf3e ansteigen", kommentiert man these Tat-
sadie in Mannheim, wahrend in Stuttgart auch die Gruppe der akade-
misch gebildeten Leser gr613er geworden ist. In Munchen wiederum hat
sich die Zahl der jugendlichen Leser in den letzten 8 Jahren verfunf-
facht und bestreitet ebenfalls mehr als 60 ?/o des gesamten Leserpubli-
kums. Aber auch die gr8f3te Stadt des Bundesgebietes, Hamburg, kann
eine Jugendbeteiligung unter den Volksbuchereilesern von 53 ?/o angeben.
Der Bibliotheksleiter weif3 aber genauso gut wie beinahe alle seine
Kollegen, daft noch weitaus mehr Bucher verliehen werden konnten,
wean mehr vorhanden whren. In der Bundesrepublik aber entfallen nosh
nicht einmal 20 Volksbucherei-Bucher auf hundert Einwohner. In einem
Land wie Danemark dagegen zahlt man pro Kopf der Bevolkerung je
zwei Bande aus dem Bestand der dffentlichen Buchereien. Leicht be-
greiflich, dag die Volksbiichereibibliothekare stets neiderf6llt each Skan-
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dinavien lugen. Andererseits weist man immer wieder darauf hin, dais
im Bundesgebiet fur seine 50 Millionen Einwohner mittlerweile jahrlich
uber 20 Millionen DM an offentlichen Mitteln fur die Volksbiichereien
aufgebracht werden. Das hei1 t., es wird heute mehr als doppelt soviel
dafur ausgegeben wie vor 10 Jahren. Dennoch reicht es nicht aus. Audi
das ist schliefflich ein Beweis steigender Lesefreudigkeit.
Dpnn eines ist ganz sicher: die Frage. nach dem Buch wurde sofort
noch um ein Vielfaches steigen, wenn sie nichts kostete. Das beweisen
die skandinavischen Lander, in denen das Volksbudiereiwesen den Ein-
wohnern vollig unentgeltlich zur Verfugung steht. Das beweist Berlin als
eine der wenigen deutschen Stadte, deren Volksbiichereien auf Grund des
Bucherei-Gesetzes gebUhrenfrei sind. Westberlin besitzt, auch geteilt, als
nach wie vor menschenreichste deutsche Stadt mit 2,2 Millionen Einwoh-
nern denn auch den absolut grof3ten Buchbestand von 827 426 BUchern,
mit 161 008 Volksbiichereilesern aber ebenfalls einen grof3en Leserpro-
zentsatz von nahezu 8 Prozent. Bei zuletzt jahrlich 4 738 525 Entlei-
hungen kann es mit Stolz darauf verweisen, daft durchschnittlich jedes
Buch fast achtmal im Jahr mindestens einen Leser fand.
Direkt beleuchtet sieht es z. B. so aus, dais die Millionenstadt Ham-
burg einen Volksbiichereibuchbestand von 501903 Banden hat, aber
jahrlich 2,5 Millionen Entleihungen verzeichnet. Das heifit, im Schnitt
wird jedes Buch ca. viermal imn Jahre entliehen. Die Industriegrof3stadt
Mannheim besitzt in ihren Volksbiichereien 90 385 Bande, die jahrlich
446 022 Entleihungen erfahren. Eine mittlere Stadt wie Kaiserslautern
zum Beispiel hat nur 27 730 Bande in den VolksbUchereiregalen stehen.
Fur ihre knapp 70 000 Einwohner ist das jedoch wesentlich mehr als
selbst in Hamburg. Denn an der Alster kommt ca. 1 Buch auf jeden vier-
ten Einwohner, in der Pfalz fast auf jeden zweiten. Trotzdem hat Kai-
serslautern ebenfalls einen Jahresdurchschnitt von ca. 4-5 Entleihungen
pro Buch zu verzeichnen. Die Lesefreudigkeit ist eben entsprechend der
Struktur der Bevolkerung, aber naturlich auch je nach Arbeit and Ge-
schick der jeweiligen Bibliotheksleiter, sehr verschieden.
Was aber - ob geringer odes hoher Leserprozentsatz - was lesen
these Leute, die Volksbuchereien benutzen?
Wenn man in diesem Rahmen einmal einen Blick auf eine mittlere
Stadt werfen will, dann kann man side aus Kaiserslautern berichten las-
sen, daf3 dort neben der Buck von den weiblichen Romanlesern audi
Frischs ?Homo Faber" ebenso wie Tolstois ?Krieg and Frieden" gefragt
wurden. Die Manner bevorzugten dagegen des Russen Dudinzews ?Der
Mensch lebt nicht vom, Brot allein", Gerlachs ?Verratene Armee", Pli-
viers ,Moskau-Roman". Die Jugend, die in Kaiserslautern 51 Pro-
zent der Romanleserschaft bildet and damit die Feststellung bestatigt,
dais die Lesergruppen uberall verschieden gelagert sind, wandte sick
vor allem Ditters ?Rasselbande", der ?Susanna Barden" von Boylston
and Lindgrens ,,Philipp Langstrumpf" zu.
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Bei den Biographien waren es u. a. Heinkel: ?StUrmisches Leben",
Sauerbruch: ?Das war mein Leben", die besonders von Mannern ver-
langt wurden, wahrend Frauen hier Hamsuns ?Regenbogen", Velsens
,,Im Alter war die Fulle" bevorzugten, and die Jugend sick in erster
Linie an Lutgens ?Der grof3e Kapitan", Pfeilstuckers ?Liselotte von der
Pfalz" and Hinderks-Kutschers ?Donnerblitzbub Wolfgang Amadeus"
hielt.
Bei den Reisebeschreibungen als dritter allgemein meistgefragter
Buchkategorie waren sogar 85 Prozent der Leser Jugendliche, and sie
lasen Heinz Helfgen: Ich trampe zum Nordpol" and Deutschland-
Bildbande aller Art, wahrend die Manner Heyerdahls umstrittenes ?Aku
? Aku" and die Frauen samtliche Titel von Herbert Tichy bevorzugten.
Beim CJberblick uber andere Titelregister ware nosh bemerkenswert,
dali audi in Kaiserslautern Lyrik verlangt worden ist, and zwar Gott-
fried Benn, Hermann Hesse, Manfred Hausmann and Werner Bergen-
gruen - welch eine Spanne, auch da.
Audi Kunstbiidier wurden zur Hand genommen, and zwar vorwie-
gend von Mannern die beiden Antipoden Sedlmayr and Paul Klee, wah-
rend die Frauen die franzosischen Impressionisten betrachteten.
Interessant ist auch die Feststellung, daft in der so bevorzugten Gat-
tung der praktisdien Bucher, in deren R.ahmen erneut die Jugend das
Wort fuhrt, Bastelbucher and - wer hatte es gedacht - Madchenjahr-
bucker, wie sie auf den Regalen der Sortimenter verstauben, zu viel-
beachteter Ehre kommen. Frauen wahlen dagegen Lesenswertes uber
Gesundheitspflege and Wohnkultur, Manner uber Gartenarbeit, Radio-
technik and Photobiidier.
Ganz besonders interessant erscheint audi die Mitteilung des Mann-
heimer Bibliotheksdirektors Dr. Wendling, daf3 die Nachfrage nach Bal-
zac, Dickens, Maupassant, Keller, Storm oder Stifter Dutzende von zeit-
genossischen Autoren ubertrifft, die oft vor drei oder vier Jahren nosh
zu den Verkaufserfolgen des Budihandels zahlten.
Sogleich daran anschlieflend konnen wir uns auf Frau Dr. Golderblom
berufen, die als Leiterin der Frankfurter Volksbucherei u. a. feststellte:
Fur Hemingways ?Der alte Mann and das Meer" interessierten sick
mehr als 50 Prozent mannliche Leser. Audi Peter Bamms Die unsicht-
bare Flagge" wurde als Kriegsbuch vor allem von Mannern gelesen,
hauptsachlich von Angestellten, and zwar uber Funfzigjahrigen. Vor-
wiegend weibliche Leser dagegen haben die Buddenbrooks" von Tho-
mas Mann and Heinrich Bolls ?Und sagte kein einziges Wort" zu ver-
zeichnen. Aber Eid-endorffs ?Aus dem Leben eines Taugenichts" wird
vorwiegend von Mannern gelesen!
Das also sind Reaktionen der groflten erfal3baren deutschen Leser-
gruppen.
Ahnlich, ja in manchem verwandt ist das Bild auf dem Gebiete der
Buchgemeinschaften. In der Bundesrepublik soil ihre Mitgliedschaft die
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3-Millionen-Grenze schon lange iiberschritten haben. Hier ergab eine
Verlagsumfrage (Bertelsmann), daf3 auch auf diesem Gebiet die Jugend
die Spitze halt. Bei den Leseringmitgliedern bildeten die Leser unter
30 Jahren 44 Prozent, and nur 5 Prozent waren alter als 60 Jahre. Als
Bildungsgrundlage hatten 56 Prozent Volksschulbildung, 33 Prozent
mittlere Reife, 8 Abitur and nur 3 Prozent Hochschulbildung angegeben.
Aber 36 Prozent der ?ringmaf3ig erfaf3ten Leser" konnten ein Einkom-
men von weniger als 500 Mark aufweisen, and beruflich rangierten die
meisten (38 0/0) unter Angestellter and Beamter. Eine andere Biichergilde
kann dagegen auch bei standiger Zunahme der jugendlichen Leser als
Stamm-Mitglieder entsprechend ihrem Aufbau auf 43 Prozent Arbeiter
verweisen.
Trotz dieser soziologisch unterschiedlichen Struktur beider Leserge-
meinschaften steht in jedem Falle an erster Stelle der Roman. Biogra-
phien sind dagegen wiederum in beiden Fallen ganz auffallend viel we-
niger gefragt als zum Beispiel in den Volksbuchereiregalen. Im Rahmen
der Gilde z. B. nur zu 3 Prozent. Aber auch Kriminalliteratur wird, ob-
wohl das Angebot bier im freien Handel stattfindet and nicht wie bei
den Buchereien etwa unauffallig padagogisch gesteuert werden kann,
kaum verlangt.
Immerhin haben 71 Prozent der befragten Leseringmitglieder ange-
geben, daf3 sie, seit sie dem Lesering angehoren, auch im Buchhandel
mehr kaufen. Hier liegt die Sache wieder anders. Biichereien and Lese-
ringe sind Einrichtungen, die einmal padagogisch, zum anderen merkan-
til mit der Masse rechnen. Der Buchhandel rechnet noch mit jedem ein-
zelnen Kunden, and jeder Verlagsvertreter weif3, welches Genre ,geht".
Es gibt, wie der Verband deutscher Bibliotheken 1955 feststellte, im
Bundesgebiet, einschlief3lich Berlins, von insgesamt 24 002 Gemeinden
in 6958 eine Volksbiicherei, die in gr6f3eren Stadten noch aus zahlre
then Einzelbuchereien (in Hamburg 94, in Bremen 22 etc.) besteht, so
daf3 man ungefahr von 8000 Volksbucherei-Bibliotheken sprechen kann.
Dem stehen ca. 6000 westdeutsche Buchhandlungen gegenfiber, and beide
konnten sie von rund 1500 Buchverlagen beliefert werden. Beim Buch-
handel aber erfahren die Verlagsvertreter beinahe generell, ganz im
Gegensatz zu den Volksbiichereierfahrungen: Romane sind nicht gefragt.
Von bekannten Autoren werden vielleicht 2-3, von unbekannten aller-
hochstens I Exemplar ubernommen. Im allgemeinen interessiert sich der
geschatzte Buchhandlungskunde fur Bildbande. Kunstgeschichte ist en
vogue, and Werke wie Grohmanns. ?Paul Klee" oder sein jungstes Kind
,,Kandinsky zu 67,- DM haben einen guten Umsatz. Das kann man
sich in den grof3en beruhmten Buchhandlungen von Koln and Hamburg,
Dusseldorf and Frankfurt bestatigen lassen. Auch die kleinen Buchge-
schafte von Passantenstadten wie Neuenahr oder Baden-Baden, Neuwied
oder Luneburg bekraftigen das wiederholt. Hin and wieder kann man
hier, wieder gegensatzlich zur Buchgemeinschaft, aber entsprechend der
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Bucherei, die Erfahrung horen, dais auch Gedichtbande gekauft werden:
Gottfried Benn, Ingeborg Bachmann, meist von jungen Menschen. Dafur
entspricht wiederum die Sortimenterbeobachtung nicht immer den Sach-
bucherfahrungen der Biichereien und Leseringe: das praktische Buch ist
nur manchmal ein Verkaufserfolg.
Ein besonders groi3er Untersdiied laIt sick vor allem beim politischen
Buch feststellen. Das, was der an der Haustur bediente Leser ablehnt
und jener vor den Freihandregalen, nur unauffallig wahlt, wird fiber
den Ladentisch oft erbeten. Schlie1lich gehorte Paul Sethes ?Zwischen
Bonn und Moskau" eine Zeitlang sogar zu dem, was man in Deutsch-
land nicht gern ?Bestseller" nennt. Denn i berall hiefs es jetzt wieder:
?Man rennt nicht mehr nach dem Bestseller, auch nicht nach der Novi-
tat, man sucht Qualitat", bis vor kurzern erst der nahezu kiloweise ein-
gekaufte und verkaufte Dr. Schiwago" von Boris Pasternak these Theo-
rie dock ein wenig ins Wanken brachte. Auch der Buclhhandel verzeich-
net ganz allgemein ein Ansteigen der Leserwunsche und, in diesem Falle
gemeinsam mit den Volks-Bibliotheken, sogar auf einem Gebiet, das
noch der Verstarkung bedarf: Es fehlt an guten Jugendbuchern.
Wer aber ist man"? - Ein bekannter Frankfurter Buchhandler sprach
in diesem Zusammenhang vor einem Jahr von der zerstorten sozialen
Ordnung, die die Bildung einer bestimmten Schidit, die das literarische
Leben als Teil des politischen, offentlich zu diskutierenden Geschehens
begreift, nicht zulafst". - Es soil ja auch Leute mit Abitur geben, die
nicht ein Buch besitzen, aber zwei Autos.
Hinzu ' kommt, dais sogar mancher Buch-Leser heute dazu neigt, im
amerikanischen Verbraucher-Stil das, was er gelesen hat, wie eine Zei-
tung oder Illustrierte zu behandeln und wegzuwerfen. Das beginnt bei
der jenen artverwandten ?Volksliteratur" der Groschenromane. Von
ihnen sollen nach neuesten Sd-iatzungen in der Bundesrepublik jahrlich
mehr als 60 Millionen umgesetzt werden. Es fi hrt bis zu den Taschen-
buchern, den Schlagern der Bahnhofsbuchhandlungen. Audi sie haben
wieder ihren eigenen Leserkreis, in dem Autoren wie Guareschi von den
mannlichen und Vaszary von den weiblichen Reisenden bevorzugt wur-
den. Aber all das tragt gemeinsam dazu bei, dais selbst im Zeitalter
moderner Hobbies das Lesen als ,Freizeitbeschaftigung" noch absolut
die Spitze halt. Denn 58 Prozent aller Frauen und 40 Prozent der Man-
ner gaben bei einer Umfrage das Buda als Gegenstand ihrer liebsten Be-
schaftigung an.
In der Bundesrepublik werden auch Bucher gelesen, nicht nur ge-
'macht und gekauft. Es gibt sogar mehr Leser als frii.her, und zwar ganz
anderer Herkunft, als man das bisher gewohnt war, womit eine rein
soziologische und keine literarische Frage beruhrt wird. - Vor allem.
aber: Die Generation der deutschen Staatsburger von morgen besteht
nicht nur aus halbstarken Banausen, sondern auch aus Millionen junger
Menschen, die Bucher lieben.. Das sollte doch Zuversicht wecken.
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HANS-ULRICH ENGEL
Zweimal Potsdam
Drei Stadte umkranzen Berlin, verwoben mit Schicksal and Gesdudite
- and fluchbeladen: Oranienburg, Spandau, Potsdam.
Noch heute steht das Denkmal der Kurfdrstin Luise Henriette, Ge-
mahlin des Grog en Kurfiirsten, vor dem weiten Komplex des Schlosses
Oranienburg. Aber alle gute and ehrfurchtgetragene Erinnerung an die
Furstin, Frommigkeit, soziale Einstellung, Aufgeschlossenheit den Kun-
sten gegenuber, wird durch einen Namen hart in den Sdiatten gedrangt:
Sachsenhausen.
Spandau wieder ist Festung bis in die napoleonisdie Zeit hinein. Dro-
hung ist der Name, Hag umdustert den Ort. ?Kerl, ich bringe Ihn nach
Spandau!" Jetzt ist sie Museum, these Festung. Halbvergessen Unifor-
men, glitzernde Orden, Helene, Bajonette, auch die Kerker. Fremden-'
fuhrer in Mai anzugen Sffnen lachelnd das Tor. Auf den Wallen spielt
das Sonnenlicht. In den Graben schnattern die Enten and hinter den
efeuumwucherten Kanonenschliinden jauchzen Kinder. Unbeugsame
Harte and militarische Strenge sind verdrangt. An ihre Stelle tritt
durch Liebenswurdigkeit verklarte Historic - and Lacherlichkeit.
Nistete sick, doch vor guten hundert Jahren der Fiskus in der Festung
ein mit allem nun einmal in Deutschland ?notwendigen", fast unernsten
Ernst. Der Staatsschatz sollte bier in Spandau, im Juliusturm, bewahrt
werden. Die Festung ist alt.
Spandau blieb Festung. Potsdam ist ausgeloscht als Residenz, schon
seit gut hundert Jahren. Mit Friedrich Wilhelm IV. sdilagt das Buch zu.
Was spater kommt, ist Episode, Zufall, Representation. ?Potsdam ist
meine zweite Heimat", sagte Kaiser Wilhelm II. einmal in Doorn. Der
Akzent liegt auf zweite. Berlin gewinnt Vorrang. Potsdam versinkt in
d'ammrigen Schlaf. Es wird, wie Walter von Molo es einmal nannte,
?Freilichtmuseum der Geschichte".
Berlin and Potsdam, bis zu jenem Tage, da vor der Residenz auf der
Havelinsel ein undurchdringlicher Vorhang sich auftut, ein im echten
Sinn des Wortes kunstlicher Wald aus Grenzschildern, Barrieren, Draht-
zaunen, bis zu jenem Tage gehoren die Stadte zueinander. Sie Sind eins.
Zuri ckgetraumt - seitab vom Tauten Berlin, geschmiegt an den Lauf
der Havel, liegt Potsdam. Schlosser an den Ufern, Palais, Adelspalaste,
Biirgerhauser. Die Berliner ziehen hinaus. Zu allen Jahreszeiten ist Pots-
dam ihr Ziel. Zu alien Jahreszeiten hat es seinen besonderen Reiz. Und
Gaste bringen die Berliner mit, Fremde, Freunde, denen sie ?ihr" Pots-
dam zeigen. Sic wandern durch die Straf3en, uber die Lange BrUcke, be-
trachten die weite, machtige, dock wunderbar unaufdringlich sick ins
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Stadtbild fugende Front des Knobelsdorffschen Stadtsdilosses. Sie stehen
vor dem Rathaus, dem Palais Barberini, dem Obelisk, vor S. Nikolai.
Namen, Gestalten, Menschen treten aus dean Dimmer. Bach, der hier vor
Friedrich dem Gro13en musizierte, Schinkel, der die Kirche nach dem
Brande neu auffuhrte, in Ungnade fiel, weil die Akustik mangelhaft
war. Jahrzehnte spiter erst wird von Schinkels Nachfolgern der runde,
saulengetragene Kuppelturm side caber der Kirche wolben.
Turm - da klingt etwas, unuberhorbar, gar nicht weft vom Markt -
das Glockenspiel. Einst Symbol Potsdams, ?Treu and Redlichkeit", dann
von maskenhafter Starre umgeben, zur Luge, zum Hohn herabgezogen,
beide - Treu and Redlichkeit. Tief in der Krypta canter dem Turm
ruhen die Konige. Der Vater, der dem Herrn von Katte einmal sagte, es
tate ihm leid, aber es ware besser, er sturbe (der Leutnant von Katte),
als da13 die Gerechtigkeit aus der Welt kame. Der Sohn, der Rebell wider
den Vater. Doch in der Todesstunde des Vaters wies er die etwas zu
heiter gestimmten Beileidsbeteuerungen der Rheinsberger Freunde schroff
zuruck. Nidit einer der ehemaligen Getreuen - Knobelsdorff ausge-
nommen - erhielt ein hohes Amt im Staate. Der Sohn hatte das Erbe
angetreten. Der Gedanke der Pflicht ergriff ihn. Nidit ein einziges Mal
kam er nach seiner Thronbesteigung noch nadi Rheinsberg. Aber es war
nicht sein Wunsch, hier in der Stadt, im strengen Raum der Kirche, im
Angesidit des Vaters zu ruhen. Auf der Terrasse seines Weinberghauses,
dort, wo auch scion lange seine Windspiele schliefen, da hatte er sich
seine Gruft erwihlt.
Die Gaste aus Berlin hasten voriiber. Silbern, fremd, iiberladen schim-
mert die Kanzel im Kirchenschiff. Fahnen im Raum umtost von Sdilach-
tenlirm - Leuthen, wird geflustert, Torgau, Cunersdorf, Hohenfried-
berg. Napoleon ist hier audi gestanden, node nidit dreif3ig Jahre nadi
des Konigs Tod. Sic transit gloria mundi ...
Und Sanssouci! Der Brandenburger Platz erst. Das maditige, von
Friedrich entworfene, von Unger ausgefuhrte Tor, die Allee, der schlanke
nach dem Vorbild von Campanile steil aufragende Turm der Friedens-
kirche. In einem Seitengang der Christus von Thorwaldsen. Welten be-
gegnen rich. Alexander von Humboldt lebte in Sanssouci, auf Charlot-
tenhof. Fur des Bruders Sdil69chen Tegel, das einzige markische Her-
renhaus ohne Kreuz, schafft der gleidie Thorwaldsen die Statue der
,Hoffnung". Und hier vor Sanssouci der Christus, ladielnd segnend.
Grabstatten im Kirchbezirk. Friedrich Wilhelm IV., der Romantiker
auf dem Konigsthron, dessen Herz jedoch in einer Kapsel nah dem Sarge
der Mutter im Mausoleum von Charlottenburg beigesetzt ist. Und der
romantisdie Hohenzollernkaiser Friedrich III., der sick auf dem Goslarer
Kaiserstuhl kronen lassen wollte, immer den Blick auf das gro13e, alte,
heilige Reich geridrtet, die Bismarck-Devise beachtend, ?die echte Krone
liegt in Wien". Unerfullte Hoffnung, Vergangenheit, unabweisbar.
Die Gaste frosteln. Doch da ist schon die Fontine. Die Fotoapparate
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klicken. Dann der etwas beschweriiche Aufstieg. ?Sans-Souci". Sie lesen
es, wandern plaudernd fiber die Terrasse, zahlen ihren Obolus and las-
sen sick Burch das Schloflchen fuhren. Sie sehen alles, oft and wieder-
holt. Nur die Buste da, den Homer, in der runden Bibliothek, die be-
merken sie kaum. Aufgeschaut hat der Konig zum Homer in den Stun-
den, da ihm die Dame Fortuna gnadig and huldvoll gesonnen war, auch
in den Jahren, da er um den Bestand seines Staates zitterte and in den
langen einsamen Monaten, da er auf den Tod wartete. Die Alten mus-
sen den Jungen Platz machen, damit jede Generation auf Erden ihren
Platz findet."
Er lachelt nicht mehr, der weise Grieche. Doch wer von den Gasten
vermag das schon zu sehen. Ein reichhaltiges Programm haben sie noch
vor sick, da gleiten Einzelheiten schon etwas flUchtig voriiber. Das Neue
Palais, der Wille zur Zukunft, der Schrei: ich bin nosh da, ihr habt es
nicht vermocht, mich zunichtezumachen! Versteckt im Park die Zubauten,
der Freundschaftstempel, das Chinesische Teehaus, endlich der Antiken-
tempel. Die Kaiserin, tuscheln die Gaste.
Charlottenhof, das Idyll mit Dichter- and Rosengarten, Traum der
Spatromantik, vollendet and reif, and irgendwo nosh die Romischen
Bader, der Blick zur Klassik.
Dann wieder die Stadt, die stillen niederlandisch wirkenden Strafien-
zeilen. Mozart wohnte bier and Storm auch, den nach Reinhold Schnei-
der die ,Sehnsucht nach Watt and Meer nicht loslief3".
Im Norden wieder der andere, der neue Schlo1 bezirk. Werk des Gon-
tard das Marmorpalais. Abkehr vom Alten, Residenz Friedrich Wil-
helms II. Die Lichtenau wird den Gasten lebendig, das bizarr wirkende
Schl8f3chen auf der Pfaueninsel - and eines der schonsten Denkmaler
Gottfried Schadows, das Grabmal des Grafen von der Mark.
Absdiluf3, Ende unumst8f3lich bildet Cecilienhof. Der Kronprinz, flu-
stern die einen, der Kaiser, sagen entriistet die andern. Reinhold Schnei-
der hat bei ihm gesessen in der getafelten Halle im Erdgeschof3, an dem
grof3en runden Tisch, an dem dann bald vier andere sai3en - Attlee,
Churchill, Truman, Stalin. Das Schicksal erfiillte sich. Der Vorhang fiel.
Heute zieht es wohl die Berliner wie immer and zu jeder Zeit nach
Potsdam - and sie mochten ihren Gasten die Residenz zeigen. Allein,
sie vermogen es nicht. Nur mit einem Autobus konnen sie bis an die
Stadtgrenze von Potsdam heranfahren, bis zur Glienicker Brucke, die
im weiten Bogen die Havel iiberspannt and von der anderen Seite gro-
teskerweise ?BrUcke der Einheit" genannt wird. Schlagbaume sind auf
beiden Seiten zu sehen and Bewaffnete. Schweift der Blick in die Runde,
so bleibt er bald auf Sdilof3 Babelsberg hangen, dem eigenartig gotisie-
renden Schinkelbau, in dem die denkwurdige Unterredung zwischen
Konig Wilhelm and Bismarck stattfand. Heute werden ausgerechnet Ju-
risten im Sinne der Hilde Benjamin in diesem Haus geschult. Es ist wie
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ein trauriger Witz. Ein von Efeu umranktes Bauwerk steht im Park.
Darin treffen side nach den Schulungen die angehenden ,Volksjuristeno
- es ist die Gerichtslaube vom altesten berliner Rathaus. Richtet sich
der Blick nach Norden, so greift er auf westberliner Gebiet das Schlofi-
chen Klein-Glienicke. Nach dem Krieg verwahrlost, fibernahm es vor
etlichen Jahren die Berliner Sporttotogesellschaft, allerdings mit der
Auflage, das Haus im alten Stile unter Aufsicht der Denkmalspflege aus
iiberschussigen Geldern des Totos zu restaurieren. Das gesdiah in vor-
bildlicher Weise; sicker aber zum Mif3vergnugen der Sportier, die ein
wenig unbeholfen in der Beletage auf Schinkel-Stfihlen sitzen and ihren
Orange-Juice einnehmen. Aber das Haus steht.
Der weite Park Glienicke mundet vor Sacrow and Nikolskoe, alt-
berliner Ausflugsziele. Sacrow drUben, verklart durch Fouque, die Hei-
landskirche daneben, das in den Havelstrom wie ein ankerwerfendes
Schiff hineingebaute Gotteshaus ist jetzt stumm, gesperrt, verschlossen.
Die Glocken schweigen. ,Sollst Kreuz and Bibel zum Spielzeug haben."
Nur ab and an lauft ein Rotarmist mit umgehangter Maschinenpistole
durch die Saulenhalle, schaut nach, ob nicht schon wieder verfludzte
Angler ihre Ruten gelegt haben von der Boschung in die fisdireidie Flut
hinunter. Dann schaut er hinuber, der Russe, zu einem russischen Kirch-
lein - aber das ist nun wieder fur In verschlossen, denn es liegt auf
westberliner Gebiet: S. Peter and Paul. Fur die Tochter der Konigin
Luise, Gemahlin des Zaren Nikolaus I., wurde es erbaut, als das Paar
auf der Pfaueninsel weilte and gern die ?abendliche Stille vom Feier-
klang der Glocken" fibertont haben wollte. Eine Zwiebelkuppel, ein
schlichtes Gotteshaus, sparsam der Schmuck.
Allsonntaglich ist das Kircblein gefiillt. Sie kommen von beiden Seiten,
die Glaubigen. Aus Berlin mit Autobussen and aus Potsdam fiber die
Glienicker Brucke zu Fug. Wie sollen die Potsdamer mit ihrem minder-
wertigen Gelde den Autobus bezahlen? Sie laufen, ohne zu murren. Ein
Fahrrad husdit an ihnen vorUber. Der Pfarrer sitzt darauf. Er kommt
aus Babelsberg - audi aus der anderen Welt. Dies kleine Kirchlein bier
hock fiber dem Ufer der Havel ist so etwas wie ein letzter bindender
Zusammenhalt der beiden Stadte, Potsdam and Berlin. Es fuhrt die Men-
schen zueinander. Es ignoriert die kiinstliche Grenze. Zur vollen Stunde,
wahrend der Geistliche den Segen spricht, schallt vom Turm das Glok-
kenspiel herab. Lautspredier strahlen es aus. ?U'b immer Treu and Red-
lichkeit". Dann leert sich das Kirchlein. In der Kollektebuchse klimpern
Aluminiumgroschen aus Mitteldeutschland and Messingmunzen aus Ber-
lin. Fine Gesinnung lif3t sie zusammenklingen.
Die Westberliner kehren dann im historischen Gasthaus Nikolskoe ein,
dem romantischen russischen Blockhaus, and die Potsdamer wandern ge-
duldig die Straf3e zur Glienicker Brucke zuruck, dorthin, wo die sowjet-
russische Welt sick bar jeder Romantik widerpiegelt. Sie gehen an den
Posten diesseits and jenseits der Briicke vorbei. Stalinstraf3e sdilagt es
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ihnen hart in die Augen. Vor wenigen Jahren konnten sie hier - die
alte Berliner Straf3e - noch mit der Straf3enbahn entlangfahren. Dann
zerfror im Winter die Oberleitung. Laufen miissen sie jetzt. Hinter dem
Krankenhaus sticht ihnen das Pflaster merkwurdig hell ins Auge. Ja,
hier stand einmal das Berliner Tor. Es wurde abgerissen, damit Panzer-
wagen die Strage befahren konnen, auf dem Wege nach Berlin.
Die Potsdamer nicken sich zu. Ja, dem Nauener Tor ist ein ahnliches
Schicksal beschieden. An Geschaften gehen sie vorUber - HO, Konsum,
Volkseigen - verdrangte die Welt des Privaten, verdrangt die Macht der
Personlichkeit. Potsdam war nicht immer eine lockende Welt, aber stets
wurde personlicher Mut, eigene Initiative respektiert. Sogar der arg
okonomisch denkende Friedrich Wilhelm I. lief3 sick finanziell uber-
tolpeln, duldete es schweigend, spurte er, ein Burger seiner Stadt, hatte
einen wirklich fruchtbaren Gedanken. Das kleine Gartenhauschen des
Konigs indessen, die Gloriette auf dem Bassin, ist verschwunden. Ein
sowjetisches Kriegerdenkmal erhebt sick an seiner Stelle, und. des Konigs
Kirche hier am Kanal, jetzt Heiligkreuzkapelle genannt, wird bald fal-
len. Zwei Schnellstraflen wollen die Kommunisten durch Potsdam legen.
Sie beginnen neben einer neuen, breiteren Langen Briicke und gabeln
sich just - jedenfalls auf den Planen - dort, wo sich augenblicklich
noch die Ruine des Stadtschlosses erhebt. Die eine Strage zerschneidet die
Garnisonskirche, die andere lauft durch alte Stadtviertel. Wie aber auch
die Straf3en gefuhrt werden, sie zerstoren das Antlitz Potsdams, wenn
sie das Stadtschlof3 vernichten.
Dieser Plan kann unmoglich von der Besauungsmacht diktiert sein.
Ein Blick zuruck verdeutlicht das: der ehemalige Schwiegersohn des
?Staatsprasidenten" Pieck, ?Volkspolizeigeneral" Staimer, wunschte auf
dem Gelande des ausgebrannten Stadtschlosses ein Sportstadion zu er-
richten. Seltsamerweise untersagte ausgerechnet der sowjetische Stadt-
kommandant von Potsdam die Sprengung. Staimer wunderte sich. Er
hatte geglaubt, nach der gewaltsamen Zerstorung des noch in weiten
Bautrakten erhaltenen Berliner Schlosses; wi rde sein Gedanke, in Pots-
'dam ein Schlof3 niederzulegen, allseits gute Resonanz finden. Aber offen-
bar hatte man in Moskau begriffen, daf3 es eine Fehlentscheidung war,
'der restlosen Zerstorung des Berliner Schlosses zuzustimmen, zumindest
sie sti.llschweigend zu dulden. Stein ja noch heute in Moskau der Kreml,
sogar der Thronsaal des Zaren. Niemand will je daran gedacht haben,
das Denkmal Peter des Grof3en vom Newski Prospekt im. alten Peters-
burg zu entfernen. Aber das Reiterstandbild Friedrich des Groi3en von
Rauch, einst Unter den Linden, muute abgerissen und nach Sanssouci
verbracht werden. Da wird es noch jetzt in abgelegenen Teilen des Par-
kes sorgfaltig versteckt gehalten.
Staimer wunderte sick. Man hatte dock ganz andere Objekte nieder-
gelegt; Schlosser zerstort, die fast erhalten waren. Friedersdorf und
Buckow, beides Schinkelwerke, und Schoneiche vor den Toren Berlins,
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das gar nicht einmal einem Dunker geharte, sondern der Stadt Berlin
als Schule diente, aber es war ein Schlof3. Paretz hatte man umgebaut,
modernisiert. Diese verspielte, reaktionare Romantik da mit der Konigin
Luise, nein, das war nichts. Jetzt war das Schlof3, Verzeihung, die
,,Bauernhochschule Edwin Hoernle" schon zu gebrauchen. Jetzt sah sie
aus wie ein modernes Offizierskasino. Und in Potsdam sollte er nicht...?
Das wollen wir doch einmal sehen. Ober Nacht hingen Plakate an den
leeren Fensterhohlen des ausgebrannten Schlosses: ?Fort mit dieser
Brutstatte des Feudalismus". Die ,Freie Deutsche Jugend" and die
?Jungen Pioniere" warfen Steine an die Figuren, an noch erhaltene Teile
des Innentraktes. Einzelne Treppenreste waren nosh intakt, Putten,
figurlicher Schmuck in den Rumen Friedrich des Grofgen. Alles wurde
zerstort. Fort damit! Aber es half nichts, das Schlofg blieb stehen. Plotz-
lich gefahrdete es die Potsdamer Bevolkerung. Nicht aus ideologischen
oder parteidoktrinaren Grnnden. Nein, aber es konnte doch sein, daf3
vom Sims, vom Giebel, Figuren herunterstUrzten and Passanten ver-
letzten. Nein, das mug abgestellt werden. In der modernen Denkmals-
pflege wurde man jetzt einen Kran bestellen and vorsidrtig die Plasti-
ken, wenn sie sich tatsachlich im Fundament gelost haben sollten, herab-
heben. In Mittel deutschl and wird diese Arbeit vereinfadht. Bei der Spren-
gung des Berliner Schlosses wurden auch Figuren ,vorsorglich" geschutzt.
Dafiir breitete man eigens Strohballen auf dem Erdboden aus and stiefi
dann die zweimeterhohen Bildwerke vom Sockel. Es erubrigt sick zu
sagen, wie sie nach dem Aufprall ausschauten. In Potsdam variierte man
diese Methode. Man liefg einen Trecker kommen and warf, wie es etwa
die Gauchos in der Pampas zu tun pflegen, mit Lassos durch die Gegend.
Allerdings benutzte man keine Hanfseile, sondern Stahltrossen. Man
traf, zog die Trosse straff, befestigte sie an dem Trecker, gab ein Zeichen,
sprang zuruck, denn jetzt wurde ja gleidh die Figur (eine vom Bildhauer
Glume) herabstiirzen. Sie tat es nidit. Sie blieb stehen.
Das Stadtsdilofg ist eine Ruine. Aber sie ist wert and wurdig, fiinfzehn
Jahre nadi der Zerbombung node restauriert zu, werden. Es ist keine
brockelnde Ruine. Die Fundamente sind fest. Das Mauerwerk hat keine
Risse. Sollte das Stadtschlofg fallen, so entstande die gleiche ardhitektoni-
sche Leere wie in Berlin auf dem Platz zwisdien dem Lustgarten and der
alten Schlofgfreiheit. Eine durch nichts begrenzte Fladhe, ein Raum ohne
Inhalt, ohne Gesicht, ohne Sinn.
Noch steht es, das Stadtschlof3, fragt sich nur, wie lange. Audi die
Ausstattung des Hauses ist zum grof3en Teil erhalten. Die Bibliothek
wird in Wiesbaden aufbewahrt. Die Mobel stehen uberwiegend im Neuen
Palais. Selbst wenn eine gute and vorbildlicbe Restaurierung zu viel Geld
verschlingen sollte, konnte es dieser Bau nosh vertragen, ruinos stehen-
zubleiben. Er hat die Kraft, der Witterung zu trotzen. Aber es geht
nicht um den Bau. Es geht nidit um das Werk Knobelsdorffs. Das Ge-
sicht Potsdams soil verandert, entstellt, sozialistisch im Sinne der SED
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verformt werden. Hat der Brand weite Partien der Stadt hinweggefegt,
die Gassen am Kanal and um den Markt, die altehrwurdigen Hotels,
wie den ,,Einsiedler", es blieb dock nach dem verhangnisvollen 14. April
1945 ein Ansatz zu erkennen. Es konnte wieder Stein auf Stein gelegt
werden. Aber es durfte nicht and sollte nicht.
Nur Sanssouci ist ausgeklammert. Nicht aus Ehrfurcht, nicht aus Ver-
beugung vor der Geschichte, vor der Erscheinung Friedrich, sondern weil
angeblich Rotarmisten den Schlofibezirk vor der Zerstorung bewahrten.
Die Potsdamer wandern durch den Park. Sie wissen, Gaste, Freunde
aus Berlin treffen sie jetzt nicht mehr. Sie steigen den Weinberg empor.
,,Sans-Souci" lesen sie. Sie zahlen ihren Obolus, ziehen die Filzlatschen
an, folgen dem Wink des ?FUhrers", horen wie durch einen Schleier sein
Wort. Hier", weif3 er zu berichten, ?die Barberina, man sagt, der Konig
habe mit ihr nur Tee . . .", der Besucher hurt weg. Es widert ihn an.
Dann das Voltaire-Zimmer. ?Werde Dein Recht, Deine Gedanken aus-
zusprechen, auch wenn sie nicht meines Sinnes sind, bis an mein Lebens-
ende aditen." Ja, so dachte man vor zweihundert Jahren in Potsdam.
Das ist vergessen worden - inzwischen. Das Sterbezimmer ?Frie-
drichs II.", kunsthistorisch schon exakt. Erdmannsdorff wird genannt,
erster friihklassizistischer Raum Norddeutschlands. Aber warum fallt
nicht der Name Carlyle? Es war doch ?der letzte der Konige", der Kier
starb. Ein Englander hat das gesagt, ein kritischer Kopf. Das ist dock
wichtig. Nein, fur den ,,Fahrer" nicht. Die Bibliothek. Die Monopol-
kapitalisten halten in Wiesbaden die Bucher zuruck. So hatte man die
aus dem Stadtschlof3 aufstellen mussen. Ja, aus dem Stadtschloi3, das die
Anglo-Amerikaner im April 1945 vollig ohne Grund durch Bomben
zerstorten. Ob er eigentlich weif3, dieser F6hrer", dal3 die Sowjets es
waren, die diesen Bombenangriff ihren damaligen Verbiindeten buch-
stablich abverlangten, ebenso wie den Angriff auf Dresden? Die Figur
des Betenden Knaben vor der Bibliothek, haben, durch westberliner
Schundliteratur aufgehetzte Rowdies, zertrummert. Warum sagt er
nichts von Homer, der FUhrer"? Da oben steht dock die Buste. Finer
fragt. Ja, das ist ein griechischer Dichter. Aus! ?Und Homer, er hatte nie
gesungen, doch sein Griechenland war frei".
Sie ist zu einem groflen Gefangnis geworden, die Stadt von einst.
Potsdam ist nicht frei von tragischer Schuldverkettung. ?Keiner weif3,
wo die Schuld begann". Aber was auch Abtragliches vorgebracht wird
- frei war die Stadt, die Gesinnung. Jedermann, bedrangt, verfolgt,
verflucht, gehal3t aus politischen, religiosen oder auch materiellen Grun-
den, bier fand er Heimat, hier fand er Ruhe. Sie Standen nebeneinander,
die strengen Auffassungen, aber sie schlossen sich gegenseitig nicht aus,
das Wort and die Melodie. Die Religionen Mussen alle Toleriret wer-
den and Mus der Fiscal nuhr das Auge darauf haben, daf3 keine der
andern Abrug Tuhe, den hier mus ein jeder nach seiner Fafion Selich
werden."
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JEAN GEBSER
Erinnerungen an Federico Garcia Lorca
Es war am Vorabend des spanischen Burgerkrieges, daft ich Federico
Garcia Lorca zum letzten Male sah. Also; im Juni 1936. Er wohnte in
einer der Hauptstraf3en Madrids, in der Calle de Alcala, ganz in der
Nahe des alten Stierplatzes. Seine Mutter, eine kleine, versorgte, etwa
siebzigjahrige Frau, bei der er wolinte, offnete mir. Es war drei Uhr
nachmittags, die heif3este Stunde des Tages, und die Raume waren gegen
Licht und Hitze abgedunkelt. Er kam mir aus dem Salon entgegen,
lachelnd. Ober Hemd und Hose trug er einen warmen Mantel, ein Mit-
telding zwischen Haus- und Bademantel. Er entschuldigte sick seinet-
wegen, da er erst vor kurzem aufgestanden sei. Wie viele Spanier war
er ein Nachtmensch und liebte es, bis tief in den Vormittag hinein zu
schlafen. Er war damals siebenunddreiflig Jahre alt, von kraftiger Sta-
tur; lassig in den Bewegungen strahlte er einen sympathischen Charme
aus. Damals stand er auf der Hohe des R.uhmes, aber er gab sick durch-
aus nicht selbstsicher, a.uch nicht bescheiden, sondern auf gewinnende,
naturliche und riicksichtsvolle Art. Ja, er hatte Art. Eine mehr kreatiir-
lithe als eine menschliche oder mannliche. Hinter seiner Riicksicht ver-
barg sich nicht nur Wohlerzogenheit, sondern auth das eigene Unbe-
hagen, Launen und Stimmungen ausgesetzt zu sein.
Wir waren in den Salon gegangen, eine gut burgerlich eingerichtete
Stube aus der Zeit der Jahrhundertwende. Ich hatte ihm die Probe-
drucke zweier Vignetten mitgebracht. Es waren Vignetten, die er mir
fur meinen damals in Druck befindlichen Gediditband gezeichnet hatte.
Dariiber kamen wir auf unsere Arbeiten zu sprechen. Er hatte sick mit
Wedekinds ?Fruhlingserwachen" besthaftigt und wollte mit mir zu-
sammen eine neue Ubertragung dieses Stuckes ins Spanisdie machen. Es
sollte im Winter 1937 im Madrider ?Teatro Espanol", der grof3ten
Biihne Spaniens, aufgefuhrt werden. Fur den Fruhsommer war eine ge-
meinsame Reise nach Schweden geplant, mit einer Gruppe von Zigeu-
nertanzerinnen und -tanzern aus Sevilla. Er erzahlte mir von seinem
Gedichtband, sehr geheimnisvoll, den er in Arbeit hatte, und sthlug
dann vor, mir das Manuskript seines vor kurzem beendeten Schauspiels
zu zeigen. Wir verlief3en den Salon und gingen durch einen langen Flux
in den ruckwartigen Teil der Wohnung. Im Flur hingen einige Zeichnun-
gen von seiner Hand. Am Ende des Flurs lag sein Zimmer. Es war ein
kleines Zimmer, das auf eine Nebenstraffe der ?Alcala" und auf den
Stierplatz sah und den Charakter einer Studentenbude haste. Es war
sehr einfach, mit wenigen Biichern, einem kleinen Tisch, einem Fen-
ster, einem Gemalde eines Schulers seines Jugendfreundes Salvador
Dali und einem kleinen schwarzen Kasten an der Wand, dessen Deckel
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aus Glas war and der einige grof3e dunkelfarbige Nachtschmetterlinge
enthielt, die man ihm in Argentinien geschenkt hatte; an ihnen hatte
Lorca besondere Freude and als er sie mir zeigte, wurde er um einiges
lebhafter. Dann suchte er das Manuskript hervor.
Es war das Drama ?La Casa de Bernarda Alba" - ?Das Haus der
Bernarda Alba". Er zeigte es mir mit einem gewissen Stolz and schlug
dann vor, es mir vorzulesen. Er war, vom Augenblicke an, da er das
Manuskript in seinen Handers hielt, wie verwandelt. Die Nahe der
Arbeit, die er erst vor kurzem abgeschlossen hatte, verdoppelte gewis-
sermaflen seine Lebensintensitat. Ober sein olivfarbenes Gesicht huschte
ein Schimmer von Rot, and seine nachtigen Augen begannen sich zu
beleben. Auch seine Gestik wurde mit einem Male let->hafter, and seine
Stimme voller and begann zugleich etwas zu vibrieren. ,Weif3t Du",
wendete er sich mir zu, ?ich habe das Manuskript vorgestern zum ersten
Male in einem Freundeskreise vorgelesen" - and er nannte einige Na-
men gemeinsamer Freunde and Bekannter, die zu der damaligen, wie
man so sagt: geistigen Elite Spaniens gehorten. Dann fuhr er fort: ?Du,
sie waren sehr beeindruckt. Du wirst ja sehen: es ist eine tolle Sadie,
ein Stuck nur mit Frauen and eigentlich ohne Mann. Noch immer frage
ich mich, ob es nicht zu gewagt ist". Und Bann begann er zu lesen, ohne
Unterbrechung, fast zwei Stunden lang, mit dunkler, voller Stimme, fast
betorend and mit ungemein starkem Ausdruck. Er war ja nicht nur
Dichter, sondern auch Musiker, war zudem Regisseur and Schauspieler.
Er las mit vollstandiger Hingabe and wufite die einzelnen Perso ien
auch stimmlich hervorragend zu profilieren. Dieses Drama mit seiner
unerbittlichen Harte and seiner unsentimentalen Strenge war die Be-
schworung einer niichtigen Welt, war die Beschworung des Reiches der
Mutter, jenes Reiches, wo Tod Leben ist and Leben Tod, wo sich das
noch Ungetrennte selber zu zerreiflen droht in Traum, Schlaf und Dam-
mer, wo das Unausgesprochene milde ist and zugleidi rasend, wo das
Bewuf3ts.ein das Chaos noch nicht geschieden hat, geschweige denn, daf3
die Erkenntnis die bewufltwerdenden Gegensatze in der Entsprechung
wieder aufgehoben hatte. Es war seine Grundsituation, die, in dieser
Tragodie ins Extrem getrieben, zum Ausdruck kam: der ewige Sohn
zeigte die Ausweglosigkeit dessen auf, den das Reich der Mutter fur
immer in seinen Bann geschlagen hat. Alle echten Dichter, alle, welche
die Sprache lieben and ihr dienen, stehen ja der mutterlichen Weltseite
naher als der vaterlichen. Es ist kein Zufall, daf3 man von der eigenen
Sprache als der Muttersprache spricht. Hier, in diesem Drama kam these
Verhaftung auf tragischste Weise zum. Ausdruck. Damals war mir das
nicht so klar wie heute. Aber das Gesprach, das sick an Lorcas Vorlesung
anschlielend zwischen uns entwickelte, bewegte sick in dieser Richtung,
wobei es offensichtlich wurde, dal er zwar um die Hintergriinde ahnte
and nun selber erschuttert war, in Bild and vordergrundige Handlung
gebannt zu haben, was zutiefst seine eigene Gefahrdung war. Ein er-
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schutternder Versuch der Selbstbefreiung, der Klage, ja der Anklage,
der durch die Starke, mit der these sohnhafte Grundbefindlichkeit seines
Lebens dichterisdi gestaltet worden war, dem personlichen Bereich ent-
hoben wurde and Allgemeingultigkeit erhielt.
Diese Spannung zwisdien verkapptem personlichem Gestandnis and
Allgemeingultigkeit, die sein Drama beherrsdite, vibrierte node lange
nadi, als er zu lesen aufgehort hatte. Sie lag uber unserem Gesprach,
and nur allmahlich beruhigte sich seine Stimme, allmahlich kamen wir
in den Alltag zurUck and sprachen uber die nachsten Monate: daf3 er
in einigen Tagen. sudwarts in seine Heimatstadt Granada, idh nordwarts
nach San Sebastian fahren wurden. Dorthin sandte er mir von Granada
aus durch seine Schwester noch zwei Exemplare seines allerersten, da-
mals bereits vergriffenen Buches ?Impresiones y Paisajes" - ?Eindri cke
and Landschaften". Im August erhielt ich dann dort in San Sebastian
auch das erste Exemplar meines Gedichtbandes, das seine Vignetten ent-
hielt. Ich hatte dieses Buch noch keine Stunde in der Hand, da verbreitete
das Radio die Nachricht von seiner Ermordung.
DER ROTE SCHNEE
Variation fiber ein Gedicht Mao Tse-tongs
Dies ist das Dadt der Welt,
mit tausend Gletschern abgeriegelt,
auf zehntausend Meilen
voll wirbelnden Sdinees.
Die Gipfel der Berge
sind tanzende Silberschlangen;
die Hodiplateaus
ein Zug von weif3en Elefanten.
Dies ist das Dade der Welt:
Mit tausend Panzern abgeriegelt,
auf zehntausend Meilen
voll wirbelnder Bomben;
der Schne von heif3em Rot
[durditrankt.
Die Schonheit der Berge and Strome
beugt dem Verehrer das Knie.
Doch all die erbarmlichen Kaiser
des Reiches der Mitte
gebrauchten Gewalt.
Selbst Dschingiskhan, der einst
der Stolz des Himmels war -
mehr als den Bogen spannen
konnte auch er nicht.
Und heute?'
Seht selbst,
wie es die neuen Herren Chinas
mit Edelmut and Gi to halten!
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Metternich
Zu seinem hundertsten Todcstag
Metternichs letzte Photographic zeigt einen Greis von wunderbarer
Feinheit and Schonheit: weifle Locken.uber gewolbter Stirn, hohe, ge-
schwungene Brauen, unter denen die alten Augen nachdenklich ins Leere
blicken, Adlernase, schmaler Mund, - eine Maske vollkommenen Ari-
stokratentums. Man kann rich nicht satt daran sehen. Man weill nun,
dali die Portrats des jungen Diplomaten, des Kanzlers auf der Hohe des
Lebens, Gerards, Lawrence', Enders Bildnisse, nicht oder beinahe nicht
schmeich.elten, dali der in der Jugend wirklich so ausgesehen haben
mull, der als Achtzigjahriger noch so aussah. Man ist deli Geheim.nis
dieses geschichtlichen Lebens ganz nahe. Die Politik Metternichs konnte
nur auf Ordnung, auf Frieden, auf Herrschaft, auf Erhaltung der Hier-
archie zielen, and nimmermehr besorgt sein um das groflte Gluck der
grolten Zahl; sic muf3te darum im zweiten Drittel des Neunzehnten
Jahrhunderts scheitern, and der sic trieb, wuflte das auch. Er gehort
einer Welt an, die buchstablich nicht mehr ist, die aber mit ihrem eige-
nen Maflstab gemessen werden mull, oder gar nicht. Miflt man sic mit
einem ihr fremden, so wird man uber Metternich nur ungerechtes Zeug
schreiben.
So Treitschke and spatere Preuf3isch-Deutsche. So englische Radikale
wie der gegenwartig umtreibende falsche Osterreich-Kenner A. J. P.
Taylor. So naturlich die Sozialisten; obgleich in ?Revolution and Kon-
terrevolution in Deutschland" von Marx and Engels Metternich nahezu
der einzige Mensch ist, von dein mit einem gewissen Respekt gesprochen
wird (,,ein intelligenter and energischer Staatsleiter"). Fur Heine, den
uber den Parteien stehenden, ist es bezeichnend, daf3 er fur Metternich
Sympathie empfand trotz des Schadens, den er vom ,Deutschen Bund"
erfuhr; der Artist bewunderte den Artisten.
Im allgemeinen hat Metternich bei der schreibenden Nachwelt wenig
Gluck gehabt. Zu dicht war nach seinem Hinscheiden hundert Jahre lang
die Kette der Niederlagen, welche die von ihm vertretenen Sachen
trafen: die osterreichische Herrschaft uber Italien and Vormacht in
Deutschland, Osterreich iiberhaupt, die Monarchie uberhaupt, das euro-
paische Gleichgewicht, die historische Ordnung. Audi die Revision des
Urteils uber den Wiener Kongref3, die nach 1919 einsetzte, kam, ohne
ersichtlichen Grund, mehr Castlereagh and Talleyrand als ihm zugute.
Srbiks grof3es Werk, zuerst erschienen 1925, ist in Griindlichkeit and
Reichtum der Dokumentation uniibertroffen, aber formlos, schleppend,
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ubrigens von zweifelhaftem Geist; Srbik wollte zugleidi Metternichaner
and Deutsrhnationaler sein. Die beiden Werke Victor Bibls (?Metternich
in neuer Beleuchtung" and ?Metternich, der Damon Usterreicis") sind
Pamphlete eines jeden Verstandnisses baren Fortschrittsonkels. Hubsdi
ist eine englische Biographie von Lord Cecil, ausgezeichnet der Essay
Albert Sorels. Y7berhaupt haben, wohl nicht zufallig, die Franzosen das
Beste fiber Metternich gesagt. Daft der Minister Graf Mosca in der
"Chartreuse de Parme" ein Portrat Metternichs sei, hat Stendhal be-
stritten, aber Balzac behauptet and uberzeugend ausgefuhrt. Und wenn
Friedrich Gentz in einem spaten Bekenntnisbrief schrieb: ?Ich ward
der Vertraute eines Ministers, dem die Liberale Partei in alien Landern
todlichen Hal geschworen hat, iides sein heller Kopf and heiterer, lie-
benswurdiger Charakter ibm nicht gestattet, irgend eines Menschen, noch
irgendeiner Sadie bitterer Feind zu sein" - so braucht man Balzacs
Argumente nicht, um sich an den erfundenen Erstminister von Parma
erinnert zu fiihlen. Was Mosca and Metternich gemeinsam haben: den
Egoismus, das Geschick, unter einem besc:hrankten Despoten sick oben zu
halten and genau so viel Schlechtes zu tun, wie zu diesem Zweck not-
wendig ist, aber auch nicht mehr; die Geschaftserfahrung and Meister-
srhaft der Menschenbehandlung, die leichte and feste Hand, Takt and
Autoritat; Menschenfreundlichkeit, Verliebtheit, Geldgier, Lebensver-
gnugtheit. Metternichs Lieblingslied war, wie Srbik uns erzahlt, ?Freut
euch des Lebens, weil nosh das Lampchen gluht"; ihm zuliebe hat Ros-
sini die Melodie fur eine seiner Ouverturen gebraucht. Freilich, Mosca
ist kein Philosoph, kein Pendant, sondern Praktiker; aber ist denn
viel Wahrheit an Metternichs Ruhm oder Ruf als eines ?Ritters der
Grundsatze"? Seine politisdie Geschichte ist voll von reiner Praxis, von
Anpassungen and Einraumungen. Er vertrug sick mit Napoleon, wollte
zuletzt Napoleon retten - ?aber der Narr wollte sich ja nicht retten
lassen"; er hat wieder and wieder sich neuen Dingen anbequemt, die
ihm unerfreulich waren, die er aber nicht hindern konnte: der Unab-
hangigkeit Latein-Amerikas, Belgiens, Griechenlands, dem Kaisertum
des ersten Bonaparte and noch, als greiser Ratgeber, dem des zweiten.
Gegen erst noch werdende, von ferne drohende Wirklichkeiten ohne
viel Hoffnung, zu Felde zu ziehen, das lag ihm. Aber nichts war ihm
fremder als die wahre Don Quixoterie: machtvollen Wirklichkeiten, die
da sind and zu deren Austilgung keine echte Chance mehr besteht, die
?Anerkennung" zu verweigern.
So dal, bei alien Unterschieden der Epodien and der Charaktere,
der Gegensatz zwischen Metternich and dem spaten Bismarck gar nidt.t
so abgrundtief ist, wie man wohl geglaubt hat. Sie waren beide vor
allem Diplomaten, sie sahen die ?rote Gefahr" ungefahr gleich; Bismarck
dachte europaischer, als er vorgab.
Sie haben sick gekannt and geschatzt - eine reizvolle Begegnung der
Generationen. (Bismarck an seine Frau: Den Mittwoch and Donnerstag
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habe ich bei dem alien Metternich zugebracht, er war sehr liebenswurdig
and behaglich, erzahlte ohne Unterbrechung von 1788 bis 1848, von
Politik and Weinbau, von Literatur and Forstkultur, and bekampfte
meine schwermatige Zerstreutheit, die uber die Grande Deines Schwei-
gens grubelte, mit seinem besten Johannisberger." Und Metternich zu
dem Usterreicher Thun: "Wenn Sie mit dem nicht zurechte kommen, so
wei13 ich wirklich nicht.") Dag Bismarck die starkere Naturkraft, die
geradere Intelligenz war - man braucht es nicht lange zu beweisen.
Zudem war er eine Bute Generation jiinger, also, fur uns, moderner,
naher; Diplomat nicht nur, auch Parlamentarier, auch Demagoge; Wahl-
kampf-Manager, groger Redner. Das gesprochene Wort macht einen be-
deutenden Teil der "Gesammelten Werke" aus. Metternich ist als Redner
nicht vorzustellen; die Heraufkunft des Zeitalters der Rede hinanzu-
halten, konnte man ein Hauptziel seiner Politik nennen. Auch seine
Memoiren-Fragmente, auf verschiedenen Lebensstufen entstanden, teil-
weise noch von Gentz redigiert, haben bei weitem nicht die Durchschlags-
kraft der "Gedanken and Erinnerungen". Aber das Portrat Napoleons
ist meisterhaft; Jakob Burckhardts Napoleon-Essay lebt hauptsachlich
davon. Und der Bericht Ober die letzte grog e Unterredung mit Napo-
leon, Dresden, Juni 1813, gehort zum Hochsten aller Memoirenlitera-
tur; man konnte diesen Dialog, so wie er ist, zur Szene eines politischen
Dramas im Geiste Schillers machen. Er hat innere Wahrheit; auch auI ere,
wiewohl Metternich die eigene Rolle etwas verbessert and Insulten, die
der bedrangte Kaiser ihm zuschrie, unterdriickt haben mag.
Er war feiner organisiert als Bismarck, feiner zum Beispiel im Sieg
- man denke an die iiberaus vornehme Behandlung des geschlagenen
Napoleon 1814, die vornehmlich sein Werk war. Seine geistigen Ge-
hilfen waren Literaten hohen Ranges, Gentz, Friedrich Schlegel, Adam
Muller; keine Buschs and Buchers. Er verstand sie, bediente sich ihrer,
indem er iinen voile Freiheit gab. Grausam konnten sie beide, Bismarck
and Metternich,sein, aber auf verschiedene Art; jener als brutaler, leiden-
schaftlicher Hasser; dieser, demt personliche Gute von vielen Zeugen
na.chgeruhmt wird, aus Staatsraison. Nur allzu wahr ist jedoch die
Szene in Ricarda Huchs Leben des Grafen Federigo Gonfalonieri":
wie der Kanzler den eben in Wien eingetroffenen Staatsgefangenen in
seiner Zelle aufsucht, and zwar im Ballkostum, um sich fluchtig mit
ihm zu unterhalten, and Bann zu einer Lustbarkeit zu fahren and den
Verschworer, einen Standesgenossen and alien Bekannten, ungeruhrt
den Qualen des Spielbergs zu uberlassen. Er konnte hier nicht eingrei-
fen, die Behandlung politischer Gefangener war die eigenste Domane
des kaisers Franz; aber es scheint nicht, dai3 er irgendwelche Skrupel
dabei empfunden hat. Gelegentlich des griechischen Freiheitskampfes
schrieb er, die Zivilisation horte an den Sudostgrenzen Osterreidis: auf
and jenseits ihrer zahlten "drei his vierhunderttausend Gehangte, Er-
wurgte, Gepfahlte nicht viel . . . Die Zeitungen bringen keine neuen,
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hiibschen Gedanken. Die Turken fressen die Griechen auf and die Grie-
then kopfen die Turken."
Sind dies die ubelsten Worte, die je von ihm kamen, so sind sie dock
nicht untypisch, nidit ohne Beziehung zu lebenslangen Positionen. Met-
ternich war nur Europaer, and zwar nicht in einem europazentrischen,
imperialistischen Sinn, so da13 er Europa" and die ?Welt" einander
gleichgesetzt hatte, sondern in dem bescheideneren, alteren, daf3 er sein
Interesse auf die europaische Halbinsel beschrankte, die er fur Welt-
herrschaft nicht tauglich hielt. Er war nur Aristokrat, der sich fur das
Gluck der Volker nicht interessierte, viel weniger fur ihre Freiheit, and
Balkanrevolutionen als blof3e unwillkommene Storungen des Verhalt-
nisses zwisdien den Grof3machten empfand. Er war ubrigens Pessimist,
bei alley Heiterkeit, ein heiterer Pessimist, sah im Regieren beinahe aus-
schlielslich das Verteidigen, Verhindern, die Leute vor ihrem eigenen
Wahnwitz schiitzen, and nannte sick den ?Arzt im grof3en Weltspital".
Es ist eine Auffassung von Staatskunst, die seater Taine systematisiert,
and gegen die Benedetto Croce sehr brave Einwande erhoben hat. Eine
statische Auffassung, entgegengesetzt der geschichtlichen. Hier ist wieder
stimmig, da13 Metternich, wie Taine, mehr in den Naturwissensdiaften
dilettierte als in der Historie. Von seinem eigenen Platz in der Geschichte
dachte er zwar so viel, da13 er ungiinstig zu liegen gekommen sei, dais
man viel spater, etwa urn 1900, geboren sein muflte, urn wieder etwas
Grof3es leisten zu konnen; abet ohne daruber, was dies Grof3e wohl sein
konnte, sich Vorstellungen zu machen. Gelegentlich gestand er zwei
Wahrheiten ein, die monarchisch-alte and die demokratisch-neue and
bestritt nur Wahrheit and Moglichkeit der Mitte, des Louis-Philippis-
mus". Haufiger setzte er Demokratie mit Chaos and Untergang gleich.
Solche Vorstellungen, vage wie sie waren, haben wohl fur das zwan-
zigste Jahrhundert mehr Aktualitat als fur das spatere neunzehnte. Dais
Europa auch Nationalstaat, auch Demokratie, auch Imperialismus sein
konne and eine Weile recht gut mit ihnen gedeihen, ja, dais voruber-
gehend sogar eine Versohnung des dynastischen Prinzips mit dem natio-
nalistisch-imperialistischen stattfinden wurde, das hatte ihn tief fiber-
rascht. Von dem, was wir heute haben, konnte er sagen, so ungefahr
hatte er sich's gedacht; and Baran ware soviel richtig, dais er sich unter
demokratischer Zukunft etwas Wildfremdes, ein Abenteuer ohne Ende,
ein fur Europa tief bedenkliches Abenteuer vorstellte. Die erste Halfte
des neunzehnten Jahrhunderts war fur Europa pessimistischer als die
zweite.
Unlangst haben drei abwagende Oberrichter Metternich in die Ehren-
halle der ?Grof3en Deutschen" aufgenommen, and daran taten sie gut,
wiewohl er ein deutscher Staatsmann war, wie nach ihm keiner mehr
sein konnte, and wie es noch zu seinen Lebzeiten zu spat dafiir war:
nicht liberal and national, nicht Demokrat and Sozialist, nur Monar-
diendiener and Grundherr and Furst, nur deutsdier Europaer, nur Stil-
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geber, nicht sch8pferisch, nur ?Fels der Ordnung" in einer Zeit, die
solche Ordnung weniger and weniger ertrug. Und wie Lange! Seine Re-
gierung wahrte vom Wiener Kongref3 bis zum Kommunistischen Mani-
fest, sein politis?ches Leben von der Krenung Leopold II. bis zur Eini-
gung Italiens and zum Aufstieg Bismarcks. Zwei Wochen vor seinem
Tod, Ende Mai 1859, sah ihn ein bewundernder Freund, Joseph von
Hubner, zum letzten Mal and schildert ihn: ?Das Gesprach war lebhaft
and angeregt. Beim Abschiede sagte er mir zu wiederholten Malen and
mit Nachdruck: Ich war ein Fels der Ordnung.' Ich hatte bereits die
Ture hinter -mir geschlossen, als ich sie wieder leise effnete, urn den
grog en Staatsmann nosh einmal zu betrachten. Da sal er an seinem
Schreibtische, die Feder in der Hand, den Blick sinnend nach oben ge-
richtet, in aufrechter Haltung, kalt, stolz, vornehm, wie ich In einst
so oft in der Staatskanzlei gesehen hatte in vollem Glanze der Macht.
Die Vorschatten des Todes, welche ich in den letzten Tagen zu bemerken
glaubte, waren von seinem Antlitze gewichen. tin Sonnenstrahl erleuch-
tete das Gemach and das zuruckgeworfene Licht verklarte die edlen
Zuge. Nach einiger Zeit gewahrte er mich unter der Ture, heftete lange
einen Blick des innigen Wohlwollens auf mich, wandte sick dann ab
and sagte halblaut vor sich hin: Un rocher d'ordre.` "
KINDERLIED
Berge weif3 in, viele stumme.
Berge haben keine Sprache,
Berge haben keine Stimme,
Sind mit leerem Wald behangt.
Kleine Stadt, mit roten Dachern.
Unter Bergen hingeworfen
Rot and Weif3es. Und daruber
Geht ein Berg in grauem Himmel.
Berge weif3 ich, lautlos finster.
Berge miissen immer stumm sein.
Berge warten. Berge warten.
Werden kleine Stadt vernichten.
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J. LESSER
Thomas Mann and Wilhelm Raabe
Einiges fiber Deutschlands Sundenweg
In memoriam Professor Fritz Kaufmann,
gestorben im Schweizer Exil am 9. August 1958
Thomas Mann hat nie eine Zeile von Raabe gelesen and Raabe wohl
nie eine Zeile von Thomas Mann. Dennoch hangen die Werke beider
aufs merkwurdigste zusammen.
Thomas Mann nennt die deutsche Reformation ,ein ausgemachtes Un-
gluck", da sie eine Glaubensspaltung des Abendlandes and den dreifsig-
jahrigen Krieg verursacht hat, der das deutsche Blut verschlechterte,
Deutschland entvolkerte and in der Kultur zuruciwarf. Das alles ware
Deutschland erspart geblieben, ?wenn Martin Luther die Kirche nicht
wiederhergestellt hatte." Schon 1922 erinnerte Thomas Mann an Goethes
Distichon: Franzturn drangt in diesen verworrenen Tagen, wie einst-
mals Luthertum es getan, ruhige Bildung zuriick" and fugte hinzu, dais
these Worte bewiesen, dais Goethe im 16. Jahrhundert es mit Erasmus
gehalten hatte, der Luther vergeblidi vor den Folgen seines Tuns warnte.
Wir sehen einiges von diesen Folgen in versdhiedenen Werken
Raabes, in diesem Satz etwa: Der Zwiespalt der deutsdhen Nation war
zum Besten der Welt, zum jammer des Vaterlandes ein Faktum ge-
worden!" In die Gegenwart von heute deutet der Satz: ,O tapfere,
kluge, wohlmeinende deutsche Nation, wie hart strafst du dick selbst seit
Jahrtausenden!" In Hoxter and Corvey" lesen wir, dafs linger denn
ein Menschenalter dutch das deutsche Volk durch einen See von Blut
waten mufste; Sturm auf Sturm ist uber Hoxter seit 1618 hingefahren.
Im Doktor Faustus" sags ein deutscher Student, dais die deutschen
Taten immer aus einer gewaltigen Unreife gesdiehen. Luther war
unreif genug, Volk genug, deutsdh genug, den neuen gereinigten Glauben
zu bringen. Wo bliebe die Welt audh, wenn Reife das letzte Wort
ware! Wir werden ihr in unserer Unreife nosh manche Erneuerung,
manche Revolution gewahren ... Wenn du willst, ist der Deutsche der
ewige Student." Ein anderer sagt: Deutsch sein heifit urspriinglich
sein, heifst aufstehen and die Fesseln einer Uberlebten Zivilisation ab-
schutteln k6nnen, wagen, wozu den anderen die Lebenscourage fehlt,
namlich wieder unterzutauchen im Elementaren". 1933 bis 1945.
Thomas Mann sieht die Folgen von Luthers Tat klarer als Raabe. Er
spridht von Luthers ,Innerlichkeit", seinem Dualismus von geistiger
and politischer Freiheit", and sieht damit etwas beginnen, das bis 1933
reicht. Luthers politische Uninteressiertheit kehrt wieder in Goethes Ver-
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sen: ?Ein garstig Lied! Pfui, ein politisdi Lied!" Sic findet sich bei
Schopenhauer, der andere Goethe-Verse: ?Ich Janke Gott an jedem
Morgen, daf3 ich nicht brauch furs romische Reich zu sorgen" zu seinem
Lebensmotto machte, und man begegnet ihr bei Nietzsche, der dem
juror politicos" den ihm wiclitigeren ?furor philosophicus" entgegen-
setzte. ?Diese politische Willenlosigkeit des deutschen Kulturbegriffs",
sagt Thomas Mann, ?rein Mangel an Demokratie, hat sick fiirchterlich
geracht; er hat den deutschen Geist zum Opfer einer Staatstotalitat ge-
macht, die ihn der sittlichen Freiheit zugleich mit der burgerlichen be-
raubt hat" und die Deutschen mit all ihrer Musik in die niedrigste Ge-
waltanbetung und eine die Grundlagen der europiischen Kultur be-
drohende Barbarei hat verfallen lassen.
Luther, sagt Thomas Mann, war ?ein Erzieher seines Volkes zur
Untertanigkeit vor gottgewollter Obrigkeit", indem er das beruhmte
Paulus-Wort: ?Sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt uber dish hat",
das dem riimischen Weltreich, dem politischen Raum fur die christliche
Weltreligion galt, ?auf die reaktionare Winkelautoritat der deutschen
Fiirsten" bezog. Die Fiirsten, sagt auch Ricarda Huch, griffen these
Lehre begierig auf. Als die graf3lich unterdruckten Bauern rich gegen
ihre unmenschlichen adeligen Herren erhoben, schrie Luther in einem
Flugblatt, man solle sie stechen, schlagen, wurgen, und ermahnte die
Fursten, ?mit Schlachten und Wurgen von Bauernvieh sich das Him-
melreich" zu erwerben. Tilman Riemenschneider verhielt sick anders,
schlof3 sick den Bauern an und wurde dafiir eingesperrt und gemartert.
So scheiterte die Bauernrevolution, und so miglangen die Revolutionen
von 1848, 1918 und 1945. Deutsche Revolutionen sind ?der Buden-
zauber der Weltgeschichte". Der Freiheitsdrang der Deutschen, sagt
Thomas Mann, lief immer ?auf innere Unfreiheit" hinaus und wurde
1938-1945 ?zum Attentat auf die Freiheit aller anderen, auf die Frei-
heit selbst." Der Freiheitsbegriff der Deutschen meinte immer das Recht,
?deutsch zu sein, nur deutsch und nichts anderes, nichts darnber hinaus",
und im Nationalsozialismus wurde diesel Mif3verhaltnis von auf3erem
und innerem Freiheitsbediirfnis zu der Wahnidee der Versklavung der
ganzen Welt. ?Ein Volk, das nicht innerlich frei und sich selbst verant-
wortlich ist, verdient nicht die auf ere Freiheit."
Der Held des ?Doktor Faustus", Adrian Leverkuhn, sagt im Sinne
Hegels: Die Freiheit neigt immer zum dialektischen Umschwung, sie
erkennt sick selbst sehr bald in der Gebundenheit, erfiillt sich in der
Unterordnung unter Gesetz, Regel, Zwang, System - erfullt sick darin,
das will sagen: hort darum nicht auf, Freiheit zu sein." Das war die
?Philosophic" des Dritten Reichs. Einer der Jugendfreunde Adrians sah
einst nur die Zwangswahl zwisdien ?Sozialismus" und dem, ?Volki-
schen", ?seit die Freiheitsphrase keinen Hund mehr vom Ofen lockt."
Auch das wurde zur ?Philosophic" des Dritten Reichs. Privatdozent
Eberhard Schleppfuf3, den Adrian auf der Universitat horte, spradi nur
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von religioser Freiheit, aber mit einer ?polemischen Spitze gegen mo-
dernere, das heif3t: plattere and blof3 gang and gibe Ideen", niemals von
politischer Freiheit. Professor Serenus Zeitblom, Adrians ganz anders
gearteter Freund, erinnert sich dessen wahrend des zweiten Weltkrieges
and sagt sick, daf3 dem deutschen Volk unter der Herrschaft kuhnster
Willkur jetzt ?vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben ein Begriff
davon dammert, was es mit der Freiheit auf sick hat."
Aber Raabe steht in der langen Reihe von deutschen Antisemiten,
mittwegs zwischen Fichte and Hitler. Im ?Hungerpastor", seinem popu-
larsten Buch, erzahlt er, in Weif3-Schwarz-Manier, von dem idealen
Hunger des vorbildlichen Deutschen Hans Unwirrsch and dem ?schreck-
lichen Hunger, von welchem Moses Freudenstein gepeinigt, verzehrt
wurde." Der Sohn eines judischen Trodlers hungert nach Macht and Eh-
ren, er ist ein Madchenverfuhrer and ,WeltbUrger", der zu dem Freund
seiner Kindertage sagt: Wir Sind viel besser gestellt als ihr alle, wie
ihr euch nennen moget, ihr Arier." Hans endet als Hungerpastor bei
Ostseefischern, der Jude Moses als ?Geheimer Hofrat", aber ?biirgerlich
tot im furchtbarsten Sinn des Wortes." Ist das nicht der ganze National-
sozialismus? Hermann Pongs spricht noch heute von dem ?deutschen
Traumer mit einfaltig unbedarfter Michelseele" and seinem Gegentypus,
einem ,unbezwungenen Damon." Das war die Terminologie, die zu
,,Deutschland erwache - Juda verrecke" fuhrte. Die alte Kroppel-Leah,
niedergeschlagen von dem Pobel von Hoxter, nimmt die Gefiihle der
Juden von heute vorweg, als sie sagt: ?Meine Vater haben nie Frieden
gehabt seit dem Kaiser Titus. Was kummert's uns, was ihr gemacht habt
aus euerem Lande?"
Thomas Mann kontrastiert Luther and Bismarck mit Goethe, dem
Mann der ,gesitteten Voll- and Volkskraft", der ?urbanen Damonie".
Mit Goethe, sagt er, hat ?Deutschland in der menschlichen Kultur einen
gewaltigen Schritt vorwarts getan - oder sollte In getan haben; denn
in Wirklichkeit hat es sich immer naher zu Luther, als zu Goethe, ge-
halten." Darum spielt sein ?Doktor Faustus" in der Luther-Gegend,
in der Raabe-Gegend. Kaisersaschern, woher Adrian Leverkuhn stammt,
ist von Eschershausen, dem Geburtsort Raabes, nicht gar weit entfernt.
Es liegt ,recht mitten im Heimatsbezirk der Reformation, im Herzen
der Luther-Gegend - was nun wieder aufschluf3reich fur das Innen-
leben Leverkuhn, des Lutheraners, ist." Dort wehte, wie spater der
Teufel, dem er sich ergeben, zu ihm sagt, ?gut altdeutsche Luft von anno
fiinfzehnhundert oder so, kurz bevor Dr. Martinus kam." In seiner
Luft war etwas hangengeblieben von der Verfassung des menschlichen
Gemiites in den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts, etwas von
latenter Epidemie . . . Man konnte sich denken, daf3 plotzlich ein Sankt
Veitstanz hier ausbrache." Es war der Veitstanz des Nationalsozialismus.
Kaisersaschern hat Adrian nie freigegeben; die Musik, die er komponiert,
war ?bis in die geheimste genialisch-skurrile Verflechtung hinein, in
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jedem Kryptenhall und -hauch, der davon ausging, Musik von Kaisers-
aschern."
Der Komponist Leverkiihn zeigt die merkwUrdigste Verwandtschaft
mit dem Bildhauer Querian in Raabes Erzahlung ,Frau Salome". Adri-
ans ?hochmutige Weltscheu" und ,versponnene Schuchternheit vor der
Welt" sind auch fur Querian charakteristisch, der die Klappen seines
Intellekts gegen die Au1 enwelt verschlossen halt." Er lebt nur der Kunst
und bildet seine 13jahrige Tochter Eilike immer wieder nackt ab, ?dal
idi mich vor mir selber fUrchte." Adrians Weltscheu ist ein ,Ausdruck
des Mangels an Warme' an Liebe", und wie von ihm, kann man auch
von Querian sagen: ?Wen hatte dieser Mann geliebt? Wem hatte er sein
Herz geoffnet, wen jemals in sein Leben eingelassen?" In dem Brocken-
Dorf, in dem er sich ansiedelt, geschehen manchmal Dinge, die das Ge-
prage eines ganz anderen Sakulums tragen." Im 15. oder 16. Jahrhun-
dert, sagt sein Jugendfreund Scholten, ware er ?ein Alchymist" gewor-
den Oder ein Professor in Prag oder Wittenberg. Fur Adrian hat die
Musik ?viel von dem Laborieren und insistenten Betreiben der Alchi-
misten und Schwarzkunstler von ehemals." Die Bergleute des Harz-
dorfes halten Querian ?fur den Mann mit den Schlusseln zu allen Gan-
gen und Pforten der Unterwelt." Thomas Mann spricht von ?deutscher
Weltfremdheit, deutscher Unweltlichkeit", der ?etwas Skurril-Spukhaf-
tes und hejmlich Unheimliches, etwas von stiller Damonie" anhaftet.
Alles das ist bei Querian zu finden, der in einem dunklen, nur von einem
machtigen Herdfeuer erhellten Raum arbeitet. ?Der Herr dieses Reiches
der Finsternisse", der auch am heiflesten Sommertage friert, wie Adrian,
da der Teufel ihn besucht (es ist beider eigene innere Kalte), ist ein ,klei-
ner, scheuer, schamiger, sdiwachlicher Mann mit kummerlichem dunnen
Haar", der ein Prometheus zu sein glaubt. ?Der nackte Gigant mit dem
toten Kind in den Armen" ist sein neuestes Werk, uber das er sagt: ?Das
ist mein Kind. Ich babe funfzig Jahre gearbeitet, ein Lebendiges zu
schaffen; es stirbt mir aber immer in den Armen." Ein schwachliches
Mannlein mit Prometheustraumen - die deutsche Seele, heifit es im
?Doktor Faustus", setzt sich ?aus Hochmut und Inferioritatsgefuhlen
charakteristisch" zusamm.en; der Nationalsozialismus, sagt Thomas
Mann, war eine Begegnung des Minderwertigkeitskomplexes Hiders
?mit den (viel weniger berechtigten) Minderwertigkeitsgefuhlen eines
geschlagenen Volkes", das mit seiner Niederlage im ersten Weltkrieg
nichts Rechtes anzufangen wuf3te. Da Scholten bei den halbverruckten
Worten Querian unwillkurlich auflacht, ziindet dieser kurzerhand seine
Werkstatt an und kommt in dem Feuer um, das fast das ganze Dorf
einaschert. Sinnbild des von Hitler angeziindeten Deutschland. Das ist,
heif3t es im ,Doktor Faustus", ?tief deutsch, die Definition des Deutsch-
tums geradezu, eines Seelentums, bedroht von Versponnenheit, Einsam-
keitsgift, provinzlerischer Eckensteherei, neuroticher Verstrickung, stillem
Satanismus ... Unsere Liebe gehort dem Schicksal, jedem Schicksal, sei
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es audz der den Himmel mit Gvtterd'ammerungsrote entziindete Unter-
gang." Die Worte deuten auf den Antisemiten Wagner hin, den Lieb-
ling Hitlers, von dem er den Rassenwahnsinn and den Irrglauben an
nordische Mythen hatte. ?Wir konnen untergehen," sagte er einmal zu
Rauschning, aber wir werden eine Welt mit uns in den Abgrund reis-
sen," Und er pfiff das Gotterdammerungs??Motiv.
Raabe fa8te seine drei Romane ?Der Hungerpastor", Abu Telfan"
and Der Sdiudderump" zu einer Einheit zusammen, indem er von dem
langen Weg von der Hungerpfarre zu Grunzenow Ober Abu Telfan im
Tumurkielande bis in das Siechenhaus ?zu Krodebeck am Fuf3e des alten
germanischen Zauberberges" sprach, er meinte damit den Brocken, Ober
den heute die Grenze zwischen der West- and der Ostzone fuhrt. Goethes
Faust erlebt dort an der Seite von Mephistopheles die erste Walpurgis-
nacht. ?Allein bedenkt! der Berg ist heute zaubertoll." Der Vers gab
Thomas Mann den Titel zu seinem Roman ?Der Zauberberg" ein, in
dem eine burgerlidie Walpurgisnacht geschildert wird. 1933 schrieb Karl
Kraus Die Dritte Walpurgisnacht", in der das urn Urian Hitler tan-
zende Deutschland abkonterfeit wird. Wahrend dieser Tanz nosh an-
dauerte, beschrieb Thomas Mann Deutschlands Pakt mit dem Teufel im
,,Doktor Faustus". ?Luthers Teufel, Faustens Teufel will mir als eine sehr
deutsche Figur erscheinen, das Bundnis mit ibm, um unter Drangabe des
Seelenheils fur eine Frist alle Schatze and Macht der Welt zu gewinnen,
als etwas dem deutschen Wesen eigentumlich Naheliegendes." Raabes Er-
zahlung Frau Salome", die ebenfalls in der Brockengegend spielt, ist
voll von Anspielungen auf Goethes Faust", wie es auch Thomas Manns
Roman ist. Auf dem Blocksberg muf3 jeder von uns gewesen sein",
sagt ein wandernder Schneider, den die Lekture von Goethes ?Faust"
dort hinaufgefuhrt hat, and Worte wie ?germanischer Waldspuk",
,,germanische Buchen", ?Hexenkuche", Teufelsfratzen" begegnen uns
auf fast jeder Seite der Erzahlung. ?Der Teufel", sagt Scholten (die
Worte lesen sich heute anders als vor Jahren), ?reitet mich and nicht
mich allein, sondern das Dorf, den Querian, die Etikette, kurz uns
alle!" Die jiidische Baronin Veitor aber sagt: Was babe idi mit euren
Mysterien zu schaffen?"
Das 'r'eufels-Motiv ist das Haupt- and Grundmotiv des ?Doktor
Faustus", nachdem es schon auf der dritten Seite zum ersten Mal (?graf3-
licher Kaufvertrag") angeschlagen wird. ?Si Diabolus non esset mendax
et homicidal" - das ist die genaueste Charakteristik Hitlers. Der Held
des Romans ist hodimutig, der Direktor des Gymnasiums, das er besudit,
erinnert In daran, daf3 Gottes Widersacher ?durch Hodimut zu Fall
gekommen" ist. Am Schluf3 erkennt and bekennt Adrian, da13 seine
Seele in Hodimut and Stolz zu dem Satan unterwegs" gewesen sei.
Von diesem Hochmut sind audi einige seiner Studiengenossen erfOllt.
Deutschlin, wie Moller von der Bruck and Kolbenheyer, nennt den Ju-
gendgedanken ein Vorrecht unseres Volkes. Die deutsche Jugend re-
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prasentiert den Volksgeist selbst, den deutschen Geist, der Jung and zu-
kunftsvoll ist." Teutleben mochte wissen, ob auch die Jugend anderer
Volker sick mit Problemen plagt, aber Deutschlin antwortet ibm weg-
werfend: ?Die haben es alle geistig viel einfacher and bequemer ... Der
Russe hat Tiefe, aber keine Form. Die im Westen Form, aber keine
Tiefe. Beides zusammen haben nur wir Deutsche." Darum sagt Thomas
Mann, die Deutschen seien ?von dem hochmutigen Bewufltsein bestimmt,
der Welt an Tiefe` uberlegen zu sein."
Der Hochmutteufel rift sie, der Herrenrassen-Wahn, and der Teufel
gewahrte ihnen grofle Zeit, toile Zeit, ganz verteufelte Zeit." Viele
Professoren sahen der ?heraufziehenden Barbarei" mit heiterer Genug-
tuung entgegen, wo ?massengerechte Mythen das Vehikel der politisdien
Bewegung" wurden, ?Fabeln, Wahnbilder, Hirngepinste, die mit Wahr-
heit, Vernunft, Wissenschaft iiberhaupt nichts zu tun haben brauchen,
um dennodi sch&pferisdi zu sein, Leben and Geschichte zu bestimmen."
Von hoch and niedrig umjubelt, dauerte das H8llenreich zwolf Jahre.
,Das ist die geheimste Lust and Sicherheit der Holle, daft sie or der
Sprache geborgen ist." Schon vorn ersten Weltkrieg sagt Adrian, ?dag
Kaisersasdiern Weltstadt werden modite." Und im zweiten Weltkrieg
wurde der Traum des deutschen Humanismus von einem europaischen
Deutschland ?durdi die etwas beangstigende and der Welt unertraglidie
Wirklid-keit eines deutschen Europa" ersetzt.
WENIGE STUNDEN
Wenige Stunden
Vor dem Festland
Des farblosen Alltags
Gelingt das Dasein
Zum munteren
Frohlich treibenden Schifflein
Dem Illusionen die Segel blahen.
Illusion
Heitere Gebilde
Unbewuliter Substanzen
Die Goldstaub verspruhen.
Illusionen
Sonnen
Auftauchendem Leben
Und festgerundeten Polen.
Da rollt eine Trane
Nimmt mit sick den Goldglanz
Versinkt.
Draus wadist eine Blume.
Sie neigt ihre Blute
Demutig zum schmalen
Gesammelten
Antlitz.
Gertrud von Petersdor//
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FELIX LANGER
Die unsichtbare Toga
Ein Versuch fiber "Wurde"
Man kann in einer Epoche der Degradierung von Menschen durch po-
litische Gegebenheiten, der Entwertung von Besinnung und Mufle durch
eine Inflation von Tempo und Gerauschen, und der Negierung des
Privatlebens durch ?Publicity", wenn kornmerzielle oder andere Inter-
essen es fur zweckdienlich halten, - um nur so viel anzufiihren, -
nicht gut von ?Wurde" reden, wie unsere Vorfahren sie als Krongut
von Mannern und Frauen schetzten. Denn.och: der Begriff der ?Wurde"
ist da und, wenn die akademische Definition seines Inhaltes (oder seiner
Inhalte) sich vielfach mit seiner aktuellen Interpretation nicht deckt,
scheint die Frage berechtigt: was hat Kurswert an ihrer Statt?
Es ist unzweifelhaft, daf3 friiheren Generationen die Funktion des
Begriffes ?Wurde" ein elementarer Bestandteil, wenn nicht gar das ord-
nende Prinzip ihrer sozialen Existenz war. Sie bemUhten sick vielleicht
weniger um seine Definition. Er war Teil 1hres Fleisches und Blutes und
wirkte geistig und seelisch als balanzierender Faktor in der Beziehung
des Individuurns zu seinem Ego und der Auf3enwelt zu diesem. "Wurde"
war einmal eine Eigenschaft des Selbstbewuf3tseins und die Form seiner
Representation nach auf3enhin, also Wirkung und Erscheinung, doch sie
war gleichzeitig eine imputierte Qualitat von unbelebten Objekten, von
gewissen Bauwerken, Einrichtungen, kiinstlerischen Hervorbringungen
u. a. Der Mensch war sich seiner ?Wurde" bewu1 t als Burger, Gatte,
Vater, Meister in seinem Gewerbe, als Vertreter eines amtlichen Auf-
trages, etc. Seine ?Wurde" reflektierte die ?Wurde", die er selber re-
spektierte, wo Respekt erwartet wurde: zum Beispiel in der Kirche,
vor Gericht, vor dem Staatsoberhaupt und dessen Beauftragten, was
am Ende einer Sanktion seiner eigenen zugute kam. Ob ererbter Brauch,
traditionell-konventionelle Etikette, uberkommener Glaube an irgend-
welche Symbole bestimmte Gefiihle in ihm weckten, mochten these Ehr-
furcht, Frommigkeit, Angst oder jubilierende Freude sein, sie instru-
mentierten die innere und die auf3ere Haltung des Menschen in gewissen
Situationen und gewisen Personen und Dingen gegenuber. Er benahm
sick ,,wUrdig" vor der ihm begegnenden .,Wurde", gema13 seiner eige-
nen, ob these nun instinktiv oder bewuf3t vorhandenen Regeln gemaf3,
in ihm wirkte.
In Zeiten, da ?Wurde" eine essentielle Qualitat des gesellsdiaftlidien
Verhaltens bedeutet, ist der Mensch nicht der Unsicherheit seines eigenen
Kriteriums nberlassen, wie er sich gegebenenfalls verhalten solle oder
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musse. Maf3 und Form seiner sozialen Koexistenz sind gesetzt und liefern
einer persSnlichen Selbstbewertung Richtlinien, welche blof3 durch Re-
bellion gegen sie ubersprungen werden konnen. Diese letztere mochte
unter Umstanden ?Fortschritt" verheif3en, wenn sie einem subkutan vor-
handenen, doch allgemein nosh unbewuf3ten Bedurfnis nach einer Ver-
anderung von sozialen Figgungen entsprach, und eine evolutionistische
Uberleitung von alten zu neuen Inhalten und Formen zustandebrachte,
urn der ?WUrde" des Neuen die einleuchtende Bedeutung von im Ab-
lauf der Zeit Begrundetem zu sichern.
Das letztere ist bei ?UmstUrzen" selten der Fall. Eine aus der er-
schUtterten Bewertung der gesturzten Vergangenheit genahrte Skepsis
verringert eine forderliche Respektdistanz zwischen dem Anerkennung
heischenden neuen Kurs ethischer, politischer oder asthetischer EinfUh-
rungen zugunsten einer usurpierten Freiheit personlich-kritisdien Ur-
teilens, das vielfach nur aus oberflachlich Sichtbarem folgert, ohne Wur-
zeln und Zusammenhange zu beachten und zu priifen.
Die romische Toga hatte ihre klimatisch empfohlene und durch eine
Entwicklung legitimierte Existenzberechtigung auf dem Forum der An-
tike, wo eine heroisch-dramatische Auffassung staatswichtiger Verkiin-
digungen ihren Faltenwurf mit rhetorischem Pathos harmonisierte und
eine uberragende Symbolisierung von Amtern, Personlichkeiten und die
unmittelbar wirksame akustische Inszenierung ihres Auftretens for-
derte. Die Toga - ob praetexta oder nicht - hatte spateren Epochen
-- und nicht zuletzt in anderen Landstrichen unter verschiedenen kli-
matischen Bedingungen - bei ahnlichen, mehr oder weniger alltag-
lichen Anlassen, unzweckdienlich, ja lacherlich geschienen, Weil gewisse
Umstande und Entwicklungen andere uberzeugende . . . Uniformen
entwickelt hatten. Dennodi hat die Bildhauerkunst sick bis zum heu-
tigen Tage ihrer bedient, um Reprasentanten von uberragenden mensdi-
lichen Werten, zurnal in der Region des gedanklich und kunstlerisdi
Schopferischen, in ihr darzustellen. Vielleicht urn durch ein sozusagen
symbolwerterprobtes Kostam die durch weltpolitische und kulturelle
Veranderungen nicht unterbrochene Existenz einer ?klassischen" WUrde
zu betonen und damit zugleich einen von geanderten ?Zeiten" unan-
tastbaren Abstand zwischen den Mittlern und 10berbringern metaphy-
sisch inspirierter Botsdiaften, beziehungsweise Schopfungen, und einer
blof3 rezeptiven Masse (im Alltagsgewand) zu unterstreichen. Die Toga
ist ein zeitloses Symbol von ,WUrde", sozusagen an sich. Sie versinn-
bildlicht menschliche Qualitatsverschiedenheiten.
Primar gibt es keine andere ,Gleichheit" als die des Seins, des Da-
seins. Was sick aus dieser entwickelt,.erzeugt zwangslaufig Unterschiede,
korperliche und geistige und in deren Folgen soziale, welche wir re-
spektieren oder negieren konnen, ohne sie allerdings durch das letztere
aus der Welt zu schaffen. Sie Sind, um eine abgestandene Phrase zu ge-
brauchen, in der Natur der Sache" begriindet.
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Unterschiede zwischen Menschen sind angeboren oder geziichtet. An-
geborene Wiirde der Erscheinung and des Auftretens erlaubt zunachst
nur asthetisdie, nicht moralische Schlusse. Sie ist die Toga, hinter der ...
nichts stecken mag, dock es kann mitunter eine Weile dauern, bevor sick
das erweist. Qualitat in einer nicht adaquaten Korperform hat es viel
schwerer im Ringen um Beachtung and Anerkennung. Sie ist der In-
halt, der sich seine Toga erkampfen muf3. Die unsichtbare Toga der
offentlich anerkannten ,,Wiirde" innerer Werte wird selten errungen
ohne die uberzeugenden Beweise von Leistungen, doch auch dann muf3
sie oft wieder verteidigt werden, denn --- es liebt die Welt, das Strah-
lende zu schwarzen.
Anders ist es mit jenen ?Wdrden", welche eine Geselischaft erfindet,
systemisiert and verleiht, um die Koexistenz von Einzelwesen tecbnisdi
organisieren and manipulieren zu konnen. Symbole and Kostume dienen
als Hilfsmittel bis zur Grenze ihrer aufreizend storenden Oberbewer-
tung durch ihre Inhaber and deren Tyrannis. Von der ?Krone" his zur
,,Waage der Gerechtigkeit" (unterstutzt durdi richterliche Amtsroben),
von der militarischen Uniform bis zu der von Hotelportiers gibt es
bekanntlich eine Vielfalt auflerlicher Zeichen zur Sicherung von ,,Amts-
wurde". Sie bestellen den Alltag gewissermaf3en mit Wegweisern, um,
was sie reprasentieren sollen, mit einem graduierten Respekt vor diesem
zu synchronisieren. Der Burger wird durch these Symbole angehalten,
ihre Trager oder Inhaber als Vertreter e.ines gesellsdiaftlichen Auftrages
im Interesse einer allgemeinen Ordnung zu beachten and zu achten.
Niemandes personliches ?WiIrde"-bewuf3tsein kann durch die Respek-
tierung von ?Amtsw6rden", die vom Gesetz beglaubigt sind, verringert
werden, mag auch vielleidit Furcht vor Strafe der kalkulierte Mittler
sein, um jene zu erzwingen. Man kannte also unterstellen, daf3 ?Worde",
die in gewissen siditbaren, konventionell oder gesetzlich sanktionierten
Formen manifestiert, ohne Prufung anerkannt wird, wahrend eine an-
dere, die sick ?nur" auf Eigenschaften von Personiichkeit, Geist and
Leistung beruft, eine Kritik nivellierend eitlen Selbstgefiihls herausfor-
dert, welche Anerkennung als freiwilligen Tribut vielleicht nur sehr be-
dingt gewahrt oder gar widerborstig versagt, wahrend sie die, bedroht
von irgendwelchen peinlichen Konsequenzen, einem ,Gefilerhut" nidit
verweigern wird. Was kann man daraus schlief3en?
Jeder Mensch ist eine Botschaft an seine Mitmenschen. Es kommt
nicht allein darauf an, wie sie sick meldet, sondern auch auf die innere
Bereitschaft, sie zu empfangen. Nidits soil verhindern, sie nach der Be-
gegnung mit ihr zu erortern, zu analysieren, auf ihre Echtheit zu un-
tersuchen, ihren Goldgehalt zu prufen. Eines soil nicht gesdiehen: daf3
sie vorwegnehmend an Maflstaben des eigenen Ichs gernessen wird, um
sick die Uberzeugung zu sidiern, daf3 man selber ein zumindest eben-
burtiger Gipfel von Erreichbarem ist. Die ganze Skala von ... Neugier
auf die Botschaft des unerkannten Mitmenschen soil mit ihrer eigenen
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,,Wiirde" bereitet sein, sich vor jener zu beugen, wenn sic sick iiber-
zeugend angeboten hat, ohne sie zu erniedrigen, wenn sie etwa hinter
dieser Erwartung, zuruckgeblieben ist. Eine erhohte Verantwortlichkeit
'fur ?Wilrde" an sick, der eigenen wie ihres Gegenstucks, das an sic
appelliert, ist eines der Grundelemente gesteigerten Seins, das Zivili-
sation and Kultur als Menschheitserrungenschaften ehrt.
Es gibt aber leider noch eine andere, ziemlich haufige Reaktion auf
das Phanomen des Mitmenschen and seiner Botschaft, ob these nun per-
sSnlich oder durch das Medium von Bilchern, Kunstwerken, Musik oder
Ansprachen erfolgt: die der unmittelbaren, ja oft schon vorweggenom-
menen gereizten Replik, welche sich durch nichts ,imponieren" laf3t,
nicht durch Personlichkeit, triftiges Argument, neuartige Qualitat oder
eine Situation, die aus allgemeinen NUtzlichkeits- oder ?blot en" Ver-
nunftsgrunden abwagendes Schweigen gebietet. (Hierher gehoren uber-
schatzte weltanschauliche, politische oder kiinstlerische Antagonismen.)
Dieses Phanomen der Uberstiirzten, hitzigen, ungeduldig erbitterten and
die ?WUrde" serioser, Angebote (von Rede, Werk, Tat) attackierenden
Einwurfe, bzw. Vor- and Nachreden, ist charakteristisch fur unsere Zeit,
in der die WUrde" des gelassen aufnehmenden Zuhorens in Mif3kredit
geraten oder verlernt oder noch nicht wiedererlernt worden zu sein
scheint. Zugegeben, dai3 der Nachhall unterdruckter Meinungsau1 erun-
gen in der jiingsten Vergangenheit dafUr verantwortlich gemacht wer-
den konnte; doch nicht :ganz and nicht jederzeit. Es handelt sich viel-
leidit auch um eine allzu impulsive Deutung ,demokratischer Rede-
freiheit", die, unterstutzt durch die modernen Vermittlungsbehelfe von
Information (Radio, Fernsehen, Kino, nicht zu reden von den Zeitun-
gen) aus einer generellen and oft oberflachlichen Informiertheit zum
Uberheblidzen Trugschlui3 einer umfassenden sachlichen Vertrautheit mit
allem and jedem gelangt and glaubt - man mochte sagen - univer-
sale Urteilsfahigkeit als Freipal3 einer ?Gleichheit" und ?EbenbUrtig-
keit" der ?WUrde" selbst der ungewohnlichsten Darbietungen von Per-
sonlichkeit, Ideen and Leistungen entgegenhalten zu konnen. Ein usur-
pierter ?Marschallstab im Tornister" la9t viele sick ?Marsdiall" fuhlen,
die . . . es nicht einmal his zum Korporal gebracht haben.
Nichts kann gegen ein zeitgenossisches demokratisches Gleichberedi-
tigungsgefuhl aller (im Rabmen der gesetzlichen Begrenzungen) ins
Treffen gefuhrt werden als das Argument, daf3 es eine Illusion ist, wenn
positives Wissen, fadimannische Erfahrung, denkerische oder kiinstleri-
sche Verkundigungen (metaphysisch verankert wie alles Schopferisdie)
sich als Mafmstabe von Qualitaten, von Wert and Unwert anbieten. Und
wir wollen auch die ?Weisheit des Alters" hier nicht vergessen. Man
konnte es paradox ausdrucken: die unsichtbare Toga der ?Wilyde" der
Berufenen and Begnadeten ist eine Aureole, die erfiihlt werden mug;
es gibt keine ?demokratisclie Gleichheit" vor ihr, hochstens eine Eben-
bUrtigkeit Ebenburtiger in der gleichen Sphare des Besonderen, des Un-
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gewohnlichen. Wirkliche geistige Gr6f3e ist immer individuell und in
ihrer Art jeweils einzigartig.
Doch gerade ihr gegenuber herrscht auf seiten der Anderen, der An-
gesprochenen, oft ein peinlicher Mangel an abwartender Demut der
Hor- und Lernbereitschaft, des Verstehenwollens von Nochnichtverstan-
denem, und eine Unwilligkeit der Eindamrnung einer, wenn auch kritik
berechtigten, Selbsteinschatzung der Urteilsfahigkeit, welche, scheinbar
grundsatzlich von Skepsis und Aggressivitat erfi llt, im voraus, mochte
man sagen, schon die blofle Moglidikeit von etwas ihr Oberlegenem (Er-
fahrung, originelles Denken, profundes Wissen und die elementare Neu-
artigkeit kunstlerischerSchopfung) negiert oder lacherlich zu machen sudit.
Es mangelt (moralisch gesehen) - oft programmatisch - an einer Art
von freiwillig sich bescheidender Unterordnung des ,Schiilers" unter
die Autoritat des ?Lehrers", die ja nur temporar zu sein braudit bis
bessere Erkenntnisse den ?Lehrer" vielleicht i berholt haben. ,,Schiller"
(Adept) eines ?Meisters" zu sein, war in vergangenen Jahrhunderten
fast einem Ordensprivileg mit einer eigenen ?Wilrde" gleich. Heute
scheint eine ahnliche Stufung (metaphorisch) als eine Preisgabe des eige-
nen Personlichkeitswertbewuf3tseins geringgesdiatzt zu werden. Apo-
steltum, nicht zu verwechseln mit politischem Partisanentum, ist in Mif3-
kredit geraten. Karrieren beginnen mit einem selbstimputierten Meister-
rang. Es bedarf fallweise tatsachlich hollywoodischer Propagandafan-
faren, um ungewohnlichen Erscheinungen die Beachtung und das An-
sehen zu verschaffen, die ihnen gebuhren, weil Durdischnittlichkeit sich
eine ,Wilrde" anmaf3t, die sick zumeist auf nichts als auf ein Majoritats-
prinzip (der Indifferenz) stUtzt und aus diesem fallweise die Konsequenz
von Brutalisierungen im weitesten wie im engsten Sinne folgert. Sug-
gestive Suada uberwiegt das wohlerwogene Argument, Schein und Ver-
kauflichkeit siegen fiber Qualitat, platte Zweckdienlidikeit triumphiert
fiber zeitlose Schonheit und der Knuppel usurpierer ?Macht" uber die
Legitimitat von Besinnung, bedachtiger Prufung von Gegebenheiten
und, was sick aus ihnen entwickeln laf3t.
Doch es ist nicht immer eine ,MajoritHt", die Besserwissen und Mehr-
verstehen der ,Sprache der Zeit" fur sick beansprucht und dementspre-
chend Larm sdilagt. Hierher gehoren jene bildersturmenden Minori-
taten, die einerseits das Gegenwartige um jeden Preis gegen Werte der
Vergangenheit ausspielen oder ein von ihnen ausgedachtes ?Programm"
fur morgen gegen die Gegenwart, obzwar beide, Vergangenheit wie
Gegenwart, Werte enthalten mogen, ohne,die ein ,morgen" uberhaupt
unmoglich ware. Hierher gehoren, von allem, politischen Radikalismus
abgesehen, die Programme von fragwurdigen Riditungen"; ,,Sezes-
sionen", ?Avantgarden", etc., die ent-wUrdigen (Perioden, Menschen,
Werke), bevor sie selber den Nachweis einer eigenen ?Wurde" ihrer
Existenzfahigkeit, wenn audi nur als ?Mode einer Saison" erbracht
haben.
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Das gleiche gilt fur Lebensstilformen im allgemeinen, individuelle
Representation, Demonstration von Gefuhl, etc., die alle, evolutioni-
stisch gesehen, ihre in bestimmten Situationen begrundete Berechtigung
und ?Wurde" haben und via facti immer nur temporar und gruppen-
weise auger Kurs gesetzt werden konnen; denn es gibt, sozusagen, psy-
chochemische Elemente der sozialen Koexistenz, die in jeder ?Gesell-
schaft" unentbehrlich sind, wie die Vitamine im menschlichen Korper,
und in Manifestationen sichtbar werden, welche, man mag sic ?kon-
ventionell" schelten, trotzdem lebensessentiell Sind.
Gewisse, moglicherweise in einem elementaren Erlebnisverlangen ver-
wurzelte, Symbole des gegenstandlichen Ausdruckes von ?Wurde" Oder
Signale ihrer unfafibaren Gegenwartigkeit erhalten sich sonderbarer-
weise unverandert und unabhangig vom Wandel der Anschauungen, der
Moden und ?fortschrittlichen" Neueinfuhrungen. Zum Beispiel: Fahnen,
(farbige wie schwarze), silberne Fanfaren, Glockengelaute, Bollerschiisse,
Schiffsirenen, Bouquete, Kranze und vielleicht auch das Zeichen zum
Beginn einer Theatervorstellung (Glocke Oder Hammerschlag) als Auf-
forderung, eine ?Wurde" des Augenblickes (mag auch eine groflere
Zeitspanne gemeint sein) zu erleben, freudig erhoben, ergriffen, er-
sdiUttert und auf alle Falle von respektvoller Erwartung erfiillt. Und
,sie erzwingen diesen Respekt, das heifst einen Aufschwung des Gefuhls
und (momentan zurnindest) eine Drosselung des prapotentesten Egos.
Wieso und warum in unserer so geschundenen Zeit, da der Mif3brauch
dieser Requisiten fur Uble Zwecke sie zumindest mif3trauischer Skepsis
aussetzen sollte? Vielleicht ist es so, dais sic einen in jedem Menschen
vorhandenen, metaphysisch inspirierten, oft vergessenen Oder unter-
druckten Impuls entriegeln helfen, den das individuelle Gefuhl regi-
strieren mug wie ein Seismograph ein fernes Beben, bevor es in einen
iiblichen Zynismus zu entrinnen vermag.
?Liebe" in alien ihren Nuancen ist die lieblichste Blute der mensdi-?
lidien Seele und, wo sic sick offenbart, durchbricht sic die Barrikaden
programmatischer Normen von Tradition und mondainen Konventio-
nen, ohne zu zerstoren, was wert ist, erhalten zu bleiben. Sic verehrt,
wo Verehrung geboten ist. Die Bereitschaft, zu lieben, das heifit sich
beeindrucken zu lassen, um aus der Enge des Ichs in die Umarmung des
Du zu finden, offnet die Tore einer umfassenden Erlebnisfahigkeit, die
schon im blofsen Da-sein, im Lebendigsein, im Mensch sein, die unsicht-
bare Toga einer ?Wurde" erfiihlt, und zu Selbstbescheidung verpflich-
tet, wenn these in auserwahlten Gestalten und ihren Botschaften sichtbar
und horbar in Erscheinung tritt. Demut vor ihr, auf solche Weise be-
lohnt, hat Menschen seit je und je besser gemacht, als sie vorher gewesen.
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ZEITSCHRIFTEN
Moralismus and Realismus in der
Politik ersdieinen oft wie feindliche
Briider. In einem sehr lesenswerten
Aufsatz (?Zeitschri f t far evangelische
Ethik", 1/59) schiebt Ludwig Freund,
unseren Lesern durdi kritisrhe and tief-
schUrfend konservative Beitrage be-
kannt, das Wediselspiel zwischen ihnen
in den Vordergrund der Diskussion:
?Die Dichotomie oder Antinomie
von ?Moralismus" and Realismus" in
der Politik ist wahrscheinlich das
grundsatzlidie Problem auch der De-
mokratie. Die Demokratie als solche
ist natiirlidi eine Folge der kontinu-
ierlichen moralischen Forderung nadt
mehr Geredttigkeit, Freiheit and
Gleichheit in den politischen Formen
der Herrschaft. Aber die Geschichte
der Franz6sischen Revolution ist nicht
die einzige, die beweist, daf3 die
,Moralisten" sick in blutriinstige
?Realisten" verwandeln k6nnen, so-
bald sie im Besitz der Macht
sind . Aber die blot e Fas-
sade der Demokratie and selbst deren
dauernde Einrichtung beseitigen nicht
die fundamentale Sdieidung der Gei-
ster, der Charaktere and Meinungen.
Oberall gibt es ?Moralisten" and
?Pragmatisten" der Politik. Der
durchaus entscheidende Untersdhied
ist dennoch die Mbglichkeit freier
Entfaltung moralisdier Prinzipien im
Volke and in der Erziehung auf der
einen, ihrer systematisdien Verkum-
merung and Behinderung auf der an-
deren Seite.
Das Wesen der demokratischen
Staatskunst scheint mir demnadz im
standiggen, sdtwierigen and opferrei-
chen Kompromil zwisdien ?Morali-
sten" and ?Pragmatisten" zu liegen.
Den Meinungpsstreit zwischen ihnen
aufl6sen, hiefle doch, den Sieg der
einen Partei durch die terroristisdie
Vernichtung der anderen erkaufen.
Die professionellen Utilitaristen oder
Pragmatisten in den verantwortlichen
Regierungsstellen, denen die Verteidi-
gung der Madit, des Interesses and
RUNDSCHAU
der Sicherheit des Landes aufgegeben
ist, werden oft ungeduldig in Bezug
auf die moralisdhen, das relative Redit
anderer Menschen, Stande oder Staa-
ten wagenden Bedenken von Krei-
sen, die meist keine direkte politisdie
Verantwortung tragen, aber durdh
das Mittel der Sffentlichen Meinungs-
auf3erung in der Demokratie oder
in irgendeinem anderen, mehr oder
weniger freiheitlirhen, System BerUck-
sichtigung ihrer Gesidrtspunkte er-
zwingen.
Die Moralisten ihrerseits mochten
den Himmel sturmen and die Per-
fektion des Mensdiengesdiledites Lie-
ber heute als morgen herbeifiihren.
Sie machen die Redinung ohne die
anderen Menschen and - man darf
hinzufngen - ohne tiefe Kenntnis
ihrer eigenen sowie der Menschen-
natur iiberhaupt. Der kontemplative
Mensch" stellt nidit die Norm fur
den politisdi handelnden Menschen
dar. Wo aber der dynamische ?mora-
lisdie Mensch" zum politischen Akteur
wird, da ist er stets der mehr oder
weniger einsame Mensch in der Kri-
sensituation, der moralisdte Held, der
Martyrer, den die ?Meute" jagd and
verfolgt - der Mensch mit einem
positiven Begriff der Freiheit, der
Schmach and Fesseln ertragt, weil
die innere Wiirde and Freiheit ihm
wichtiger dunken als sein eigenes au-
Beres Sebidtsal.
Soldie Mensdien sind rar. Sie soll-
ten nicht verwechselt werden mit de-
nen, die ihr eigenes rassisdies Min-
derheits-, ihr konfessionelles, ihr
Standes- oder ihr nationales Interesse
mit Prinzipien iiberzeitlidier Geredt-
tigkeit verwechseln, aber niemals frei-
willige, von innen diktierte (denn da
liegt der moralische Akzent!) Opfer
fur andere Menschen oder im Dienste
h6herer oder jedenfalls i berindivi-
dueller Zwecke zu bringen geneigt
rind."
Dr. Gertrud Ludcner and ihr Kreis
zahlt zu diesen raren Menschen. Die
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neueste Nummer ihres Freiburger
Rundbrief" (41/44), der die Freund-
schaft zwischen dem alten and dem
neuen Gottesvolk fordern will, ent-
halt unter anderem einen Versuch des
Zurcher Juristen K. S. Bader fiber
die Moglichkeiten strafrechtlichen
Schutzes gegen Antisemitismus. Der
Gelehrte steuert sorgfaltig zwischen
dem Obel der Sondertatbestande and
Radbruchs Forderung, ?Keine Tole-
ranz den Intoleranten!", hindurch,
and gelangt schliefllich zu dem weisen
Ergebnis:
?Wir sprachen vorhin vom Wort-
schatz des Unmenschen. Der Studien-
rat Zind ist zu Gefangnis verurteilt
worden, weil er fand, daf3 ,/eider`
nicht alle Juden vergast worden seien.
Das Urteil war mutig and gerecht. Es
sollte aber nicht bei diesem Urteil blei-
ben. Sollten wir nicht Worte wie ,ver-
gasen` aus unserem Sprachsdtatz til-
gen? Das Wort hat, leider, eine Art
halbamtlichen Charakters angenom-
men. In einem - nati rlidi spaf3haf-
ten - Gespradi meinte vor kurzem
ein Mann, der sick bester Beziehun-
gen zu deutsdien Zeitgrofien ruhmt,
es mUf3ten alle Juristen vergast' wer-
den; er war freundlicherweise bereit,
mich auszunehmen! Natarlich nur ein
Scherz. Aber welch ein Scherz! Es soil
auch einen Halbstarkenschlager' ge-
ben, dessen Refrain lautet: Oma and
Opa sind glucklich verggast.. . .' Im
taglichen Gespradt zwischen guten Be-
kannten kehren derlei Redensarten
taglich wieder. Wollen wir unsern
Sprachschatz mit dem Strafgesetzbuch
reinigen oder nicht lieber besser auf
uns achten? Wer wissen will, was al-
les dazugehort, moge in H. G. Adlers
,Theresienstadt' das SS-Vokabular
nachiesen. Das bedeutet aber: mit dem
Kampf gegen den Antisemitismus ist
es nicht getan. Es fangt alles viel frii-
her an and geht aber den so klein
gewordene?n Kreis judischer Mitbur-
ger weit hinaus. Jede Diskriminierung
menschlicher Gruppen, auch der Bibel-
forscher, Dienstverweigerer, mit denen
ein maflgeblicher Politiker schon fer-
tig werden' wollte, der Fluchtlinge
and ,Reing'schmeckten', die in Gedan-
ken and Worten auch schon vergast`
worden sind, ist von gleichem 10bel.
Die Wochen der Bruderlichkeit` muf3-
ten auf das ganze Jahr ausgedehnt
werden. Es geht urn die entscheidende
Besserung zwischenmenschlicher Bezie-
hungen, die das ganze Jahr and das
ze Leben fiber bedacht and ge-
Met werden mUssen. Wie armlich
aber stehen wir mit unserem Straf-
recht da: sollen wir Liebe mit Strafe
erzwingen?
Wenn jeder, aber auch jeder, der
zurn Schutze gegen Storungen mensch-
licher Beziehungen nach Gesetzgeber
and Richter raft, jenen Hitler in uns'
bekampft, den er bei sich and seinen
Nachsten trifft: dann ist mehr getan,
als mit der juristischen Prazisierung
von Straftatbestanden. Den strafredtt-
lichen Schutz gegen Antisemitismus
wollen wit im Rahmen dessen, was er
zu bieten vermag and zu grof3enTeilen
bereits bietet, zu dem machen, was
er ist: zum ultimum remedium."
Wie richtig diese Forderung Baders
ist; aber auch wie fragwurdig ihre
Durchsetzung in der Praxis, zeigte un-
langst ein Stuttgarter Gerichtsfall.
Dort hatte side ein beamteter Anwar-
ter auf ein europaisches Amt einer
polnischen Sprachlehrerin gegennber
ebenfalls ?im Scherz" so geaufiert.
Das Gericht liei3 den Scherz gelten,
and man hat nichts davon gehort,
daf3 die europaisdte Offentlichkeit
vor diesem wurdigen Vertreter
Deutschlands verschont geblieben
ware.
Gegen den Hitler in uns selbst"
haben Jakob Lehmann and Hermann
Glaser im Verlag Diesterweg das
Heft 4 der Reihe ,Mosaik" zusam-
mengestellt: ?Unsere Texte wollen
das Vermadttnis einer Jugend wach-
halten, die Feme and Verfolgung,'
Leid and Tod auf sich nahm and im
Aufstand gegen ihre Zeit, ganz auf
sich selbst gestellt, inmitten einer Zeit
der tiefsten Verfinsterung Lichter des
Glaubens, der Verantwortung and
der Wahrheit ansteckte, die nie mehr
verloschen du"rfen." Die Auswahl der
Texte ist gut getroffen, das Heft
eine Publikation, die breitere Of-
fentlichkeit verdient. Harry Pross
531
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THEATER -RUNDSCHAU
In dieser Spielzeit wird von einer
ganzen Reihe westdeutscher Bi hnen
das Stuck eines Nachwuchsautors ge-
geben, das - schon als Hi rspiel mit
dem Preis der Kriegsblinden ausge-
zeichnet - 1956 den Gerhart-Haupt-
mann-Preis der Berliner Freien Volks-
buhne erhielt: ?Philemon and Bau-
kis" von Leopold Ahlsen. Leider hat
dieser Erfolg nicht nur einen kunst-
lerischen, sondern auch einen politi-
sdien Aspekt, der eine kritische Aus-
einandersetzung notig macht.
Philemon and Baukis, zwei Ge-
stalten der griechischen Mythologie,
die sick inmitten einer schuldigen
Welt ihr refines Menschentum bewah-
ren, haben schon mehrfach als litera-
rische Anregung gedient. In den Me-
tamorphosen" des Ovid bewirten sie
die Gotter and dt rfen dafdr im To-
de, zu Baumen verwandelt, beieinan-
der bleiben. Bei Goethe im Faust II
werden sie ,,weggeraumt", weil sie
fragen, ob des Magiers grofies Werk
der Landgewinnung mit Menschenop-
fern nicht zu hodt bezahlt ist.
Ahlsens Paar lebt im Griechenland
des Zweiten Weltkrieges. Sic be-
wirten keine Gotter, sondern gewah-
ren zwei deutsdhen Soldaten, von de-
nen einer schwer verwundet ist, Un-
terschlupf auf der Flucit, and die
Baume, zu denen auch sie zuletzt mus-
sen, sind nur die Galgen, an die man
sie hangen wird. Denn um das Leben
ihrer heimlichen Gaste nicht zu ge-
fahrden, versdiweigen sie den eigenen
Leuten, dais die deutsche Besatzungs-
macht eine Strafexpedition gegen das
Partisanendorf plant, and werden so
mitschuldig am Tod der Opfer, die
ihre spatere Warnung nicht mehr er-
reicht. So die Fabel.
Hier konnte es also nidht um Goe-
thes Frage gehen, ob ein friedlidies
Werk mit blutigen Opfern begrundet
werden darf. Was side damals ab-
spielte, war ein Kampf auf Tod and
Leben, der keine Wahl in den Mit-
teln lie13. Es ging um die Vertrei-
bung der feindlichen Eindringlinge,
gegen deren Gewehre nidus helfen
konnte als wieder Gewehre. Das gait
es im Stuck deutlich zu machen.
Aber hilft der Autor jene tragische
Situation erhellen, die zwingt, im
Namen des Lebens zu toten? Zeigt
er uns, wie Menschenliebe and sub-
jektiver guter Wille, wenn sie poli-
tisch nicht konkretisiert werden, ob-
jektiv in eine Unterstutzung der Un-
menschlidhkeit umschlagen and sick
selbst ad absurdum fuhren konnen?
Nichts von alledem.
Weit entfernt davon, eine solche
Perspektive auf die Handlung zu
geben, die aber die Einsichten des
ggreisen Paares hinausweisen and er-
klaren wurde, an weldiem Irrtum sic
scheitern muSten, identifiziert sich
Ahlsen kritiklos mit dem Vorgang.
Der aber reduziert sich am Ende nur
auf das wohifeil erfundene factum,
dais ein griechiches Ehepaar von grie-
chisd-ien Partisanen in unnotiger
Grausamkeit mit dem Tod bestraft
wird, nur weil es zwei bedauerns-
werten deutschen Soldaten Gastredit
gewahrte; and als Martyrer gehen die
beiden alten Leute zum Schlufi vor
den Augen eines geruhrten deutschen
Publikums Hand in Hand in den Tod.
Hier aber beginnen unsere Ein-
wande, denn so ergreifend das ist,
so bedenklidi ist es audi, weil das
Studs um so sicherer zu falschen
Schliissen im Politischen fuhren
muff, je mehr sein Autor darauf be-
harrt, es auszusparen. Der Versuch,
das rein Menschlidie" dieser.Ange-
legenheit zu zeigen and ihren poli-
tischen Charakter zu unterschlagen,
bedeutet nichts anderes, als einen
Teil der Wahrheit zu unterschlagen.
Wenn Ahlsen ein Griedie ware,
blieben zwar unsere Bedenken, vor
allem gegen eine Auffuhrung des
Sti dcs in Deutschland, bestehen, aber
man konnte es noch hinnehmen. Aber
nur cin Angehdriger des griedhisdhen
Volkes hat ein Redit, so zu sprechen.
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Selbst wenn wir Ahlsen seine gute der Autor Uberdies sehr deutlich.
Absicht glauben wollen, bleiben die Konnen die Unseren nicht warten?
naive Unbekummertheit, die Takt- In zwei Wochen kommen die Eng-
losigkeit erschntternd, mit der man lander", laflt er die Braut eines Par-
heute in Deutschland den von Deutsch- tisanen sagen, die es eigentlich besser
land Uberfallenen Versohnung auf- wissen mnflte. Und damit auch jeder
notigt. Der Ton bleibt falsch, so bie- b egreift, awfuhrlich is sich s pater noch
der er klingt.
Ahlsen macht side seine Griechen blot, die Deutschen ziehen doch ohne-
so zurecht, wie er sic braucht, and hin ab."
legt ihnen die Antworten in den So einfach war das. Also: Was
Mund, die man hierzulande horen mogen die nut gehabt haben? Aber
will. So stellt rich dieser Autor die Ahlsen hat auch darauf eine Ant-
Volkerverstandigung vor. Es ist nicht wort: Spaf3. Spaf3 werden sic gehabt
Selbsterkenntnis, sondern Selbstbe- haben an der Partisanenspielerei.
trug, wozu er uns verhilft. Gerade Seine Griechen sind namlich alle
uns, die wir mit unserer eigenen Ver- ein wenig kindisch and drUcken sick
gangenheit noch so wenig im Reinen such entsprechend aus. ,Das wird
rind, kommt es zu allerletzt zu, uber eine dumme Geschichte geben", laf3t
andere zu urteilen oder ihnen zu sich der alte Philemon vernehmen,
verzeihen. Wenn es Ahlsens so sehr als er davon port, daf3 die deutschen
um Menschlichkeit and Versohnung Panzer in das Dorf rollen, in dem,
der Volker ging, hatte er wohl eine wie er weifi, die Geiselerschielung
moralisch weniger bequeme Situation stattfinden soll. Es ist wirklich eine
fur Deutsche finden konnen. Haben sehr dumme Geschichte.
nicht zahllose Deutsche and Auslan- Der Partisan Alexandros, der dem
der mit dem Tode bezahlt, weil sic Massaker mit knapper Not cntkom-
an den Verbrechen des nationalsozia- men ist, sagt zu seiner Brant - wie-
listischen Unrechtsstaates nicht mit- der recht undeutlich, daf3 man fast
schuldig werden wollten and mensch- den Eindruck hat, nicht die Deut-
lich handelten, als Unmenschlichkeit schen, sondern die Partisanen batten
Gesetz war? das Blutbad angerichtet: Was ich
Die Beispiele bieten sich an, an de- heute gesehen babe - ich babe keinen
nen die mythologische Fabel fur die Spaf3 mehr daran". Er hat keinen
Gegenwart gultig abzuwandcln ware. Spail mehr daran! Vor der Exekution
Aber das grole Thema unserer eige- der Alten wirft er dann audi sein
nen Schuld ist bekanntlich noch im- Gewehr weg and desertiert aus Pro-
mer fur viele Menschen tabu. Wer test, begleitet von den Sympathien der
dennoch davon zu sprechen wagt, deutschen Zusehauer. So beweist der
riskiert den Vorwurf, er babe das Autor dutch ein ganzes Stuck, wie
eigene Nest beschmutzt" and sei ?kein wenig er den Stoff geistig verarbeitet
anstandiger Deutscher" mehr. So einer hat, uber den er schreibt. Aber seine
Gefahr hat sich Ahlsen garnicht erst Naivitat ist immer von der Art, die
ausgesetzt, er fiihrt sich beim Publi- sich bezahlt madit. Ahlsen erklart
kum gesdiickter ein. die Ausnahme zur Regel and ver-
Seine Baukis sdiimpft schon auf tausdit die Situationen. Er verlegt den
die Partisanen, wenn gerade der Vor- Hitlerkrieg in ein Hans, das nicht
hang hochgeht. Ihr ,paflt es nicht", von dieser Welt ist. Von den Un-
,, die Leute bier zu haben", denn ,sicher taten der Hitlerarmee wird hier hoch-
machen sic wieder ihre Sachen", be- stens gesprochen, aber ihre Vertreter
merkt sic so unklar wie abfallig and erscheinen in der durchaus untypi-
lafit keinen Zweifel daran, daf3 sic schen Situation des Verwundeten and
das alles nicht billigt. wehrlosen Fluchtlings, die ihnen so-
Wie uberflussig der Partisanen- fort aller Mitleid and Sympathie si-
kampf nach seinem von keinem Grie- chert. Nur die Partisanen verkor-
chen erbetenen Urteil war, erklart pern sichtbar das gewalttatige Prinzip.
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Wen konnte es nadi alledem nosh
wundern: der Krieg wird wieder
zum Schicksal, das man erdulden
mug (und auf dessen harte Gesetze
man sick notfalls immer herausreden
kann).
Hier findet ein deutsches Publikum,
das es nStig hat, endlidi sein Alibi
fur die Jahre einer krampfhaft ver-
drangten Vergangenheit; indern es silt
befriedigt bestatigen 10t, dad die
Partisanen ,,audi" keine Engel waren,
spricht es silt selber frei und wie-
derholt mit urn so reinerem Gewissen
sein alter Angebot, die Vergangen-
heit endlidt ruhen zu lassen.
Das ist die wahre Ursache des
augetordentlidien Beifalls fur ein mit-
telmagi~es Stuck. Die Besdtranktheit
der politischen Einsichten des Autors,
der die Mentalitat des Parketts nur
reflektiert, erreidit mehr als jede raf-
finierte Beredinung. Sie ist in ihrer
naiven Selbstgerechtigkeit erfolgssidte-
rer, als irgendeine bewugte Speku-
lation es sein konnte, weil sie aus
tYberzeugung immer genau den fal-
schen Ton trifft. Indem Ahlsen es
seinem Publikum bequem macht,
macht er es sick im Grunde selbst be-
quem. Dag er dabei guten Glaubens
handelt, macht die Sadie nur node
sdtlimmer.
Das Sdilimmste ist, dag man ein
solches Stuck und seinen Erfolg in
der Bundesrepublik sdion fur einen
Beweis demokratischer Wandlung
nimmt; dag man einen Autor, der so
etwas sdtreibt, fur mutig" halt und
ein Publikum, das ihm applaudiert,
fur ~aufgesdilossen". Vor soviel Bie-
dersinn padtt einen das Grauen.
Gerhard Schoenberner
DE PROFUNDIS
Es schlafen nun fur immer
die hundert Heii verliebten
tief unterm trocknen Erdreidi.
Es hat ja Andalusien
endlose rote Wege,
und C6rdoba hat grune
Oliven, wo man ihnen
kann hundert Kreuze setzen,
um ihrer zu gedenken.
Es schlafen nun fur immer
die hundert Heigverliebten.
Federico Garcia Lorca
Aus: Dichtung vom tiefinneren Sang", deutsdi von Enrique Beck,
Wiesbaden 1956, Insel-Verlag, 125 S. DM 9,80.
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OTTO V. TAUBE
In den Marken
Die Marken - man denkt bei diesem Namen unwillkurlich an die
Mark Brandenburg, die Neumark, die Uckermark usw. - dock handelt
sichs diesel Mal um ?die Marken", wie jene mittelitalienisdie, an die
Adria stoi3ende Landschaft heif3t, die die einstige Mark Ancona und nosh
andere Gebiete umfaf3t. Ihre seezugewandte Seite mit dem beriihmten
Wallfahrtsorte Loreto, der netten Provinzhauptstadt Macerata und
dem in unermefiliche Weite fiber das fern leuchtende Meer weg blicken-
den Recanati, der Heimat des Dichters des ?Unendlidien" Leopardi,
habe ich ails junger Bursch zu Full durchwandert zur lustigen Zeit der
_ Weinlese. Jetzt ward ich in das Landinnere auf ein Gut eingeladen.
Es war nicht lange nach dem Ersten Weltkriege, da taten es mir die
Gedichte eines noch unbekannten Italieners an, des Namens Ugo Betti;
ich lobte sie in einer deutschen Zeitschrift. Mehr als dreilig Jahre ver-
gingen, da klingelt der Fernsprecher in meinem Hause, und es meldet
sich jemand. mit ?bier Betti". Ich stutze; ist dock in Deutschland ,Betti"
ein gebrauchlicher Frauenname, ich aber habe auf der ganzen Welt keine
Base 'noch Muhme, die so hiefle. Der Anredende merkte wohl, daf3 ich
mich irgendwarum in Ungewif3heit befand. ?Ja", erganzte er, ?Emilio
Betti, der Bruder von Ugo Betti, den Sie damals so schi n geruhmt ha-
ben. Mein Bruder ist gestorben, und ich mochte Sie kennen lernen, um
Ihnen fur jenes verstandnisvolle Wort zu danken."
Ich freute mich, sagte, ich sei nadlm.ittags daheim, braute einen Tee
und, durchweicht von stromendem Regen, erschienen bci mir Professor
Betti und seine Frau. Es gab eine 'herzliche Unterhaltung, bei der sichs
herausstellte, daf3 ausgerechnet am Ort, an dem ich bei meiner vorer-
wahnten Fuflwanderung eine ausgelassene Stunde bei Kartenspiel und
Wein mit Strallenarbeitern erlebt hatte, der Vater der BrUder Betti
Kreisarzt gewesen war; dort also waren meinem Gaste Kinderjahre ver-
gangen. Professor Emilio Betti lehrt ramisches und burgerliches Relit
an der Universitat Rom; er beherrscht unser Deutsch so vollkommen,
daf3 er in deutschen Fachzeitschriften juristische Abhandlungen veroffent-
licht und auf Deutsch gerade so frei wie in seiner Muttersprache Vor-
trage halt. Diese Vortrage aber handeln nicht von der Juristerei, son-
dern sind dem Andenken seines Bruders geweiht, dessen Dramen in das
Deutsche ubersetzt und, z. B. ?Die Ziegeninsel", an deutschen Biihnen
auch aufgefiihrt worden sind. Zweimal hiirte ich solche Vortrage in
Munchen. Nark einem von diesen sallen wit - eine lustige zweisprachige
Gesellschaft - in einer Weinstube zusammen, da sagte mir der Profes-
sor: ?Wenn Sie wieder einmal nach Mittelitalien kommen und zwar zur
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Zeit meiner Ferien, besuchen Sie midi doch auf meinem Gut in den Mar-
ken." - ?Wie kommt man hin?" frage ich. ?Von der Schnellzugstation
Foligno mit dem Bus bis Camerino. Dort hole ich Sie ab, falls Sie side
rechtzeitig ansagen."
Und so tat ich. Schon die Fahrt mit dem Bus aus dean sauberen, durch
die Franziskuslegende bekannten Foligno war eine Freude. In Serpen-
tinen ging es bergan aus der breiten umbrischen Ebene, dann durch ein
schmales Tal, durch welches ein von Pappeln begleiteter Miihlbach flog;
die Hohen bedeckte Eichwald caber Haselgestrupp; man hatte sidh in
Mitteldeutschland wahnen konnen, ware man nicht immer wieder durch
echt italienische engstragige Ortschaften gefahren. Dann ging es caber
eine von abgeerntetem Acker bedeckte Hochebene - als ware man in
Wurttemberg auf den Feldern. Dann, jenseits der Wasserscheide, er-
schien nach langer Fahrt auf der Hohe das Nest Camerino, einst Sitz
eines der wustesten Tyrannengeschlechter der Renaissance, der Varano,
jetzt Sitz einer einsamen, von keiner Bahnlinie beruhrten Universitat,
deren veterinarische Fakultat allerdings von Ruf ist. In Serpentinen
geht es hinauf, dann halt der Bus auf dem Markte. Ich steige aus, sofort
steht ein wohlerzogener Jiingling bei mir and fragt: ?Sind Sie der Herr,
den Professor Betti erwartet?" - ?Ja". - ,Ich bin Taxichauffeur, der
Professor hat mich fur Sie bestellt, setzen Sie sick zu mir in den Wagen."
Ich nahm Platz neben ihm, and nun ging es talab-talauf auf Zickzack-
wegen. Ich sah ein braunes, vom Sommer versengtes, abgeerntetes Ge-
lande, eher schwermutig als heiter; als einziges Grin brombeerdurch-
wadisene Hecken and einige Pyramidenpappeln am Wege; doch auf den
Hohen dunkle Eichenwalder. Der Chauffeur zeigt auf einem Land-
rucken ein gestrecktes, niedrig aussehendes Gebaude: ?Das ist der Pa-
lazzo des Professors" - Villa" bedeutet ja bei den Italienern nicht ein
Haus, sondern das Landgut, das Herrenhaus darin heigt, wenn es grog
ist, Palazzo; von den Parkanlagen der romischen Villen abgeleitet, nennt
man im engeren Sinne eine kleine Baum- oder Gartenanlage am Palazzo
?Villa" oder ,Villetta." - ?Und sehen Sie", fahrt mein Fahrer fort,
?diese Gestalt in weig da droben, vor dem Hause, caber den Hecken.
Das ist entweder er oder sie, die nach Ihnen spahen."
Auf der Hohe des Landruckens angelangt, fuhr man erst der Rids,-
seite des Hauses entlang, dann in scharfem Bogen in den Wirtschaftshof,
den Brunnen and Viehtrog kennzeichneten, dann seitlidi durch ein Git-
tertor vor die Haustiir. Ein altes Wappen schmUckte das Gitter. Es war
das Wappen einer ausgestorbenen Grafenfamilie, aus der das Gut durdi
Erbgang an die Eltern des Professors gekommen war. Das Haus? also
war den Bridern Betti Heimat geworden schon in ihrer Jugend.
Nur aus der Ferne wirkte das langgestreckte Haus als niedrig. Es be-
stand aus dem Erdgeschosse, das Vorratskammern and Weinkeller ent-
hielt, and einem Oberstock. Der dreifenstrige Saal nahm dessen Mitte
ein, links schloi sick daran das mir zugewiesene Zimmer, dahinter, auf
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der anderen Seite des Hauses, getrennt von den vorderen Rumen durch
einen Gang, befand sich die Bibliothek. Was mich sofort nach Betreten
meines Zimmers ergriff, war der Blick aus dem Fenster. ?Bin ich nosh
in Italien?" fragte idi mich, ?das ist ja Spanien, die ode kahle Mond-
landschaft Spaniens mit ihrer unendlichen Leere and Weitraumigkeit."
- Camerino trotzig auf der Hohe mit der Cathedrale; sonst keine Ort-
schaft weit and breit, nur da and dort ein Baum. Und den Horizont
abschlief3end ein Gebirge von einer Strenge and dock beseligenden Li-
nienschonheit, gleich einer spanischen Sierra. Ich frage, wie das Gebirge
beige; and seltsam beruhrt mich der Name:
die sibyllinischen Berge.
Die Sibyllinen erheben sich bis zur Hohe von 2400 m. Der Professor
schlug mir vor, wenn ich arbeiten wolle, sein Bibliorhekzimmer zu be-
nutzen; es blickte auf eichenbewaldete Hohen, die sick prachtvoll gegen
das laute Blau des Himmels abhoben and in der Friihe rot ubergossen
waren von dem daruber fallenden Lichte. Ich aber arbeitete lieber ange-
sichts jenes wunderbaren Gebirgszuges am Tisch vor meinem Fenster.
Dieses Gebirge verlief in Hebungen and Senkungen, die man ablesen
wollte wie die eines Hexameters oder absingen wie aus einem alten An-
tiphonar; and abends, wann das Licht der sinkenden Sonne es traf, ver-
wandelte sick das ganze Gebirge in einen einzigen Wall von Rosen-
quarz. Fruhmorgens, wann die Sonne noch hinter dem Gebirge stand,
zeichnete es sich mit seinen Kammlinien dunkel von dem zitronengelben
Himmel ab; and dann erstand daruber das strahlende Tagesgestirn and
lief3 tiefe, vom Licht noch nicht getroffene GrUnde von den besonnten
hellblauen Hohen and Hangen unterscheiden.
Aber auch sonst gewann ich mein hohes Zimmer lieb, mit dem ein-
fachen alten Waschgestell and all dem Zubehbr, wie ich es aus meiner
Kindheit kannte. ?Wo bin ich eigentlich?" fragte ich mich wieder. Idi
hatte mich der Landschaft wegen in Spanien gewahnt. Doch wann ich
den Nachmittagsschlummer auf meinem Bette hielt oder am Morgen die
ersten Tagesgerausche hone, da wurde mir, als ware ich ganz wo anders:
in meinem Vaterhause, auf dem Gute fern im Norden, in Estland, in
der Heimat. Denn nun hone ich die allervertrautesten Laute, and nur
sie allein: unter dem Fenster HUhnergegacker and Entengeschnatter -
auch daheim hatte sich das Kinderzimmer uber dem Geflugelhofe be-
funden - and aus Stallen das geliebte Muhen der Rinder. Verschont
war ich vom neuzeitlichen Motorengerausch; nur selten vernahm man
solches in der Ferne.
Zwei Pachthofe gehorten zum Gute, der eine Pachter bewirtschaftete 13
ha, der andere 11. Die Hofe lagen nadibarlich bei einander, gleich ne-
ben dem Herrenhause in Verlangerung von dessen Linie auf dem. Hii-
gelrucken. Das heutzutage so oft getrubte Verhaltnis zwischen Gutsherrn
and Pachter ist bier gut, weil bier kein Verwalter zwischen den beiden
steht, der beide Teile iibervorteilt, sondern der Herr sick selbst um Wirt-
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schaft and Menschen kummert. Ich lernte beide Bauernfamilien kennen:
das war ein schones Volk, wie man es in den italienischen Grof3stadten
leider schon nicht mehr findet, mit vielen Kindern; die Manner wohl-
erzogen and mit Haltung; die Mundart hat den weichen, angenehmen
mittelitalienischen Mang. Wahrend die Signora - die Gutsfrau - be-
dauerte, ihr Gatte lasse nichts am Herrenhause erneuern, fand ich die
Stalle zum Teil in trefflichem Stand, zum Teil im Zustand der Ausbes-
serung: das Gebalk wurde erneuert, fur Trockenheit, zweckmaf3igen
Jaucheabflu3 gesorgt. Die Kosten dafiir sind Sadie des Herrn, der auch
die Grund- and Umsatzsteuern tragt; die Padit besteht darin, daf3 Herr
and Pachter sick gleich zu gleich in die Ernten teilen. Prachtvoll ge-
halten war das schneeweif3e Rindvieh, die Tiere werden allmorgendlich
geburstet and gestriegelt, als ob sie Rennpferde waren. Der Brunnen im
Hofe erleichtert die Sauberkeit, die in wasserarmen Gegenden - auch
in Deutschland, z. B. auf den Hohen des frankischen Juras - nicht er-
moglicht werden kann.
Im Hause ware wirklich allerlei zu erneuern gewesen. Doch gerade
das gab ihm einen bezaubernden altvaterischen Stil. Die prunkvolle
Tapete im Saal stammte aus dem vorigen Jahrhundert, die Wandmale-
reien im Ef3zimmer, das sick gleich neben der Kudie im Erdgesdzosse be-
fand, blatterten ab. Aber die Kuche mit dem urvaterlichen offenen
Feuerherde heimelte an; da wolite man breiben. Und Bettis tun das
allwinterlich. Sie kommen auf das Gut, sobald sie nur konnen, auch in
den Weihnachtstagen; da reichen elektrische i"lfchen and Hohensonnen
nicht aus, die Raume zu warmen; da lebt man bauerlich um den Herd
in der Kadie. Zwei Magde besorgen den Haushalt; die eine ist audi in
Rom bei der Herrschaft tatig, die andere wird fur die Zeiten des Land-
aufenthaltes an Ort and Stelle gedungen. Zurn angenehm einfachen
Essen wird der eigene Rotwein getrunken. Zum ersten Friihstuck uber-
raschte mich Wurst, die nicht nach italienischem Salami schmeckte, son-
dern ?norddeutsdi", and nun gar roher Schinken, der sick in Westfalen
hatte sehen lassen konnen: Ergebnis von Hausschlachtungen. Auch das
Brot wird zu Hause gebacken; auf der dem Wirtschaftshofe entgegen-
gesetzten Seite befindet sick die sogenannte Villa", einige Reihen schat-
tenspendender Rof3kastanien; unter ihnen steht der Badiofen; einmal
die Woche prasselte darin Reisigfeuer; da konnte man sehen, wie das
Brot von den Magden hineingeschoben wurde, auch die zum Verzehr an
Backtagen bereitete Pizza.
Die Tageseinteilung war zweckmaf3ig and angenehm; von 7 Uhr ab
konnte man den Morgen-Milchkaffee genief3en; der Hausherr, der side
schon urn 5 Uhr erhob, hatte da schon langst gefruhstiickt and sai3 an
einem Tischchen, unter den Kastanien fiber Papier and Bachern. Ich
erhielt die Fri hkost allein vor dem Hause im Schatten einer Hecke;
die Hausfrau, die ebenfalls schon gefruhstiickt hatte, setzte sich manch-
mal zum Plaudern zu mir. Dann kam die Stunde, zu der der Herr sick
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frei hielt; wir besuditen die Stalle, besahen die Felder, von denen einige
einen weigen, andere einen braunen Boden hatten. Oder wir sai3en
zu dritt unter den Kastanien, and der Herr lies sick von mir auf Deutsch
Holderlin, Hofmannsthal oder andere Dichter vorlesen. Und man sprach
davon. ?Ihr Holderlin", sagte die Hausfrau, ?mag ein grof3er Diditer
gewesen sein. Als Menschen kann idi ihn nicht achten. Den Mann, der
einen im Hause aufnimmt, betrugt man nicht mit dessen Frau. Dag
sich der Herr von Gontard das gefallen lies, war audi nicht gerade
manneswurdig." - Nicht anders hatte mein Vater geurteilt.
Eines Vormittags ersduen ein Gast, ein Reditsanwalt aus Camerino,
der sich eingehend mit der Agrarreform beschaftigt and uber die zuge-
horigen Fragen sehr aufsdilugreidi zu sprechen wugte. Er sprach den
Satz aus, dais uberall, wo der Staat eingreife, das Pferd am Schwanze
aufgezaumt werde, indessen Privatleute, wenn sie nicht nur Grund and
Boden zur Parzellierung hergaben, sondern auch selbst die Siedelung
einrichteten, mandimal gute Ergebnisse erzielten. Der Staat parzelliere
den Grund and setze fur den Bauern in eine jede Parzelle Haus and
Stallung ein; der Siedler aber fiihle rich einsam, werde ungludilich, ver-
zehre oder verkaufe das ihm zugewiesene Vieh and lasse bei der ersten
besten Gelegenheit das neue Eigentum fahren. Furst Buoncompagni hin-
gegen habe ein Gut, das er fur Siedlungen hergegeben, zwar ebenfalls
parzelliert and die Parzellen Eigentumern zugeteilt, die Hauser abet
fur alle in ein neues Dorf zusammengelegt, wo es Kneipe, Kino, Kauf-
laden usw. gebe; da seien die Leute zufrieden, audi wenn sie nach ab-
gelegeneren Parzellen laufen mugten. Bei der Parzellierung eines anderen
Gutes, auf dessen Gebiete alle Einwohner dank guter Berieselung das
Wasser bisher umsonst erhalten hatten, babe die offentliche Hand die
Quelle in Eigenbesitz behalten and erhebe von den Neusiedlern Was-
sergeld. Zum Wodienende ersdiien audi ein ehemaliger Schiller des Pro-
fessors, ein junger Jurist, der seinem Lehrer seine junge Frau vorstel-
len wollte - angenehme, heitere Hausgenossen.
Nach dem Mittag urn ein Uhr and einer langen Ruhezeit gab es
einen kleinen schwarzen Kaffee mit oder ohne Zutat, um sieben wurde
zu Abend gegessen. Danach erging man sich vor dem Hause unter den
Sternen and sah in der Ferne das leuditende Camerino, dessen Kathe-
drale zu Ehren des Besuches eines sudamerikanisdien Bischofs, der ein
ausgewanderter Sohn jener Stadt ist, angestrahit wurde. Um halb zehn
Uhr lag alles in den Betten. ?Vielleicht laden Sie node etwas vor dem
Schlafen?" fragt mich der Hausherr and druckt mir Fontanes ?Stechlin"
auf Deutsch in die Hand.
Einmal erlebte idi ein grogartiges Gewitter fiber den Sibyllinen.
Und dieses Gewitter hatte fur mid- eine beglilckende Folge. Das elek-
trische Licht im Hause ging aus, and ehe fernher berufene Handwerker
dem Schaden abhalfen, verstrichen zwei Tage. Da beleuchtete man sich
mit Lampen; im Saale wurde eine soldze abwechselnd von der Haus-
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frau and von mir benutzt. Zum Sdilafengehen aber holte man sich den
bereitgestellten Leuchter mit Kerze. Ich glaubte mich nosh ganz in die
selige Kindheit zuruckversetzt, wann ich beim Zubettegehen meinen
gro8en Schatten an der Wand beobachtete: dieses geheimnisvolle and
manchmal lacherliche andere Idh.
Viele Stunden hatte ich fur mich. Da ging ich fiber den Wirtsdzafts-
hof, blickte in die Stalle, sah den gebalkerneuernden Zimmerleuten zu,
streichelte am Brunnen die weigen Rinder; der Fremde, der das tut, hat
gleidi einen Stein im Brett bei dem Bauern; ?der fi rchtet sick nicht vor
dem Rinde", stellt jener mit Wohlwollen fest. Ach, da ist ja gar nidits
zu fiirchten: der groge weige Ochs mit den junonisdien Augen ist sanft.
Oder ich streune umher unter den Eichen; hier mu13 es im Fruhling be-
zaubernd von Ginster and anderen Strauchern bluhen; jetzt sieht man
nur da and dort eine Herbstzeitlose. Die Eichenstamme sind praditvoll;
an einen wollte ich messen, wieviele Umarmungen erforderlich seien,
ihn zu fassen. Doch o Greuel! Ich war bedeckt von absdieulichen Amei-
sen, die zwischen seiner Rinde auf- and abstiegen; jetzt krabbelten sie
mir in Armeln and Hemd. Eine zudringliche Fliegenart bevolkerte
gleichfalls den Wald, vielleicht, weil er jedem Winde wehrte, wahrend
Herrenhaus and Stalle fliegenfrei waren. Kein Vogellaut im Walde
auger dem gehassigen Gekreisch des Eichelhahers; die gebildeten Ita-
liener verabscheuen meist den beri chtigten Vogelmord, der Bauer and
der Spieger sind aber nicht glucklich, wenn sic nicht knallen konnen.
Jetzt war der Vogelzug voriiber, nur einige nachzuglerische Schwalben
sah man noch.
Bekummert stellte ich auf diesen Gangen die Schaden des Winters
von 1955 auf 1956 fest: ich zahlte in den Olhainen die Baume, die ret-
tungslos abgefroren waren, and die, aus deren Wurzeln neue Schog-
linge aufsprangen. ,,Wie Lange", fragte idi die Bauern, ,wird es dauern,
bis these Reiser wieder Fruebt tragen konnen?" Man rechnet mit zehn
bis zwanzig Jahren, and an erhaltenen Baumen sah ich keinen! Dag
mein Fenster zunachst auf einen solchen abgestorbenen Olgrund hinaus-
sah, aus dem die knorrigen Stamme laublos, gleidi sick ringelnden Ge-
rippen vorweltlicher Tiere erstanden, trug wohl dazu bei, dieses Land
so schwermutig erscheinen zu lassen. Hatte Ulgrau daruber geschleiert,
hatte ich mich wohl nicht auf der castilianischen Meseta gewahnt. Doch
war dieser Blick aus meinem Fenster machtig dank seiner Weite and
dank dieser vielleicht auch so geistig. Mir war es oft, wie wenn die zu
jeder Stunde von anderer Schonheit begnadeten Sibyllinen sich in mir
geradezu zu wiederholen begannen, als ob mein flUssiges Blut in den-
selben Rhythmen schlage wie ihre starren, abends rosenquarzigen Wel-
lenkamme.
Die sibyllinischen Berge, ich hab sie gelesen,
Die sibyllinischen Bucher, ids hab sie geschaut.
Vor dem geheimen sibyllinischen Wesen
Hat mir gegraut.
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Doch aus dem Grauen ist mir eine Gnade geflossen,
Nicht mehr ficht jenes mirk an, seit ich diese genossen:
Seit ich in mich getrunken habe die Helle
Sibyllinischer Quelle.
Dort, in dem ehrwordigen Gutshaus von Camorciano, begann ich
endlich auch den Dichter zu verstehen, der gleich seinem Bruder, meinem
Gastfreund, Heimat in ihm gehabt hatte. Der Hausherr hatte mir Ugo
Bettis Dramen gegeben, and ich hatte aus dem unausgesprochenen Wun-
sche verstanden, dag ich mirk in sie versenken sollte. Ihnen gehorten die
Stunden an meinem Fenster oder im Saal an der Lampe. Ich begriff,
wie schwer Ugo Bettis Dramen aufzufiihren sind. Audi er hatte die
Rechte studiert; er hatte lange Jahre als Amtsrichter in Parma ver-
bracht. Das richterliche Erleben war sein grof3es Erlebnis geworden. Fast
alle seine Dramen sind beherrscht vom Gedanken der SUhne, der Siihne-
pflicht nicht nur des Missetaters and der von Hag and Klatsch zer-
setzten Gesellschaft, sondern gerade auch des Richters; hat jemand sick
strafbar gemacht, so hat auch der rechtsprechende Richter zu sUhnen, da
auch er nicht gerecht ist. So gibt es denn auf Erden nur eine Losung: die
gegenseitige Vergebung. Der Schluf3absatz von Ugo Bettis postum ver-
bffentlichter Abhandlung ?Religion and Theater" (erschienen in der
Sammlung ?Fuodii" des Verlages Morcelliana, Brescia 1957) enthalt
den fur die Kenntnis des Dichters aufschluf3reichen Satz: ,,In der Seele
des Ungerechten, gerade auch des Richters, der die Gerechtigkeit ver-
kehrt, entdecken wir, dag er selbst nicht wird atmen and iiberleben kon-
nen ohne eine Gerechtigkeit." Schwer sind diese Stiicke auf der Biihne
darzustellen, denn die Menschen, die dort auftreten, der Gendarm, der
Missetater, die togatragenden Richter and die bosartigen schwachen
Burger, sie treten nicht auf als naturgetreue, nach Vorbildern abkon-
terfeite Menschen, sondern als Vertreter iiberpersonlicher Verkettungen.
Ich dachte oft an Ibsens ?Baumeister Solness", dessen leiblicher Sturz
vom Turm einen geistigen Vorgang versinnbildlichen soil, woran ich
schon als Schulbub Anstof3 nahm. Denn dort klaffen beide Vorgange
auseinander: Der Solness ist so sehr ein psychologisch gedachtes Men-
schenkind von Fleisch and Blut, data sein Drang turmaufwarts einem nur
als eine fixe Idee and ebensowenig rein Sturz einem als Symbole er-
scheinen kannen. Bei Betti aber ist die Darstellung einer zwielichtigen
Welt gelungen, einer unrealen Welt, in der der Carabiniere kein be-
liebiger Pietro oder Paolo ist, sondern ein menschliches Urbild. Das
Mil3verstehen seiner Stiicke and die Erfolglosigkeit ihrer Auffuhrungen
liegt daran, dag man sie als Dramen einer veristischen-italienischen Urn-
welt mif3versteht. Gerade dem italienisdien Alltag sind sie fern. Man
sollte sie wie etwa Strindbergs ,Gespenstersonate" spielen. Deutlich
merkt man den Anhauch Maeterlinks and eine heimlich wirkende, von
keinem System beengte Christlichkeit, aus der Ugo Betti einmal die
ungeheuere Forderung erhoben hat, dag das Theater die Menschen nicht
zu riihren, sondern ihren Wandel zu andern habe.
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HUG;O HARTUNG
Das Denkmal
,,Nadi menschlichem Ermessen kann nichts passieren", sagte Oberfeld-
arzt Dr. Wolgrass - natiirlich nannten ihn alle im Lazarett ,Wollgras`
- and nahm in der, ersten Reihe Platz.
Die Flagge an der Wand hinter dem Podium leuchtete stark, and die
ebenfalls angestrahlten Blumenarrangements maditen sick sehr dekora-
tiv. Wozu Operationslampen nicht alles gut sein konnten . Der
,Sani', ein alter Unteroffizier von fragwurdiger militarischer Haltung,
war vorher schon probeweise mit zierlich tanzelnden Mannequinschritten
Ober das Podium gegangen, and man hatte festgestellt, dalI audi die
VorfOhrenden gut angeleudrtet sein wurden.
?Sehen Sie was von oben?" hatte Dr. Wolgrass sicherheitshalber node
einmal gefragt.
?Total geblendet!" lautete die befriedigende Antwort des Sani.' Jetzt
safien die Kunstler and KOnstlerinnen des Stadtvheaters - es war im
Fruhling 1944 - schwatzend and ladiend im Vorbereitungszimmer
neben dem kleinen Operationssaal. Der Komiker fuhr mit einem Ver-
bandswagen hin and her and rief in einem sehr echten Bahnsteigjargon:
?Zi-arrnl Zi-aretten! Schoggolade . . ."
Auf ein Zeichen des Chefs marschierten die Kunstler auf: Der Opern-
tenor, die Zwischenfadisangerin, die Soubrette, der erste Konzert-
meister, der schwere Held des _Sdhauspiels, der Operettenkomiker and
ein Kapellmeister. Es waren durchwegs erste Krafte, die sick in den
Dienst der guten Sache gestellt batten`. Die leichtsinnig unbeschwerte
Stimmung des Verbandsraums war verflogen. Alle machten ein der be-
sonderen Situation angemessenes Gesicht, als sie auf dem Podium, un-
mittelbar vor Wand and Flagge - der Kapellmeister vor dem aufge-
klappten Flugel - Platz nahmen. Nur auf den Zugen des Komikers
lag ein joviales Ladieln. Schliellidi erwartete man das von ihm. Auch
hier.
Die Vorstellung der Kunstler and die verbindenden Worte hatte der
Oberspielleiter des Schauspiels Obernommen. Mit den Arzten war man
ubereingekommen, dal der Obliche ,Conf6rencier-Schmus`, wie man es
ausgedri ckt hatte, hier nidit am Platze sei, da jedes Improvisieren
leicht zu einer unangebrachten and in diesem besonderen Fall verlet-
zenden Wendung fiihren kiinne.
?Manner, die ibre Mannlichkeit verloren haben, Blinde, die noch nicht
wissen, daft sie es sind, and die Deformierten - Sie verstehen, daf3
soldie Leute besonders empfindlidi sind", haste Wolgrass zu Oberspiel-
leiter Hellweg gesagt.
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Hellweg zog sick mit viel Takt aus der A.ffare. Und die Buhnenmit-
glieder wuf3ten, warum sie von grellen Scheinwerfern geblendet wurden.
,Hoffentlich sehen wir nicht doch etwas", hatte die Sangerin nosh
beim Eintreten zaghaft zum Tenor gesagt.
Jetzt bemuhte sie sich, das Dunkel hinter den grellen Lampen mit
ihren Blicken zu durchdringen, ohne mehr zu erkennen, als die vagen
Umrisse vieler Kopfe. Manche davon erschienen, wohl durch die Ver-
bande, riesengrof3. Das war aber auch alles.
?Sehr ordentlich" sagte der Oberfeldarzt nach der dritten oder vierten
Nummer zu seinem Stabsarzt Dr. Blumenschneider, dem sch6nen Mann'
des Lazaretts, der begehrliche Blicke auf die Zwischenfachsangerin rich-
tete, eine grof3e, aparte Frau von geschickt gewahltem Kastanienblond,
die als einzige in einem eng anliegenden and tief ausgeschnittenen
schwarzen Abendkleid erschienen war. Sie sang eben das Gebet der
Tosca.
Blumenschneider war verargert, daf3 seine Blicke nicht bemerkt and
erwidert wurden. Dods hatte der Chef seine Herren im Anschlu1 an
die Veranstaltung zu einem kleinen Beisammensein mit den Kunstlern
gebeten and durchblicken lassen, daf3 in puncto Alkoholika jeder nach
seiner Fasson worde selig werden konnen. Man warde also in allen Be-
ziehungen auf seine Kosten kommen.
?Guck mal, das Veilchen!" sagte Schwester Annemarie zu ihrer Nach-
barin and deutete auf einen jungen Menschen im Lazarettkittel, zwei
Reihen vor ihnen, der den Kopf aufstUtzte and nach dem Podium
starrte.
?Er riskiert sein Auge", sagte die Angesprochene.
Wie lange hat der wohl keine Frau mehr gesehen?"
,,Na, and was sind wir?" meinte die kokette Annemarie leicht ge-
krankt.
?Ein Abendkleid ist was anderes als ein Kittel."
Darin mu8te Schwester Annemarie der Kollegin recht geben.
Was ist eigentlich mit mir los? dachte der junge Mann, von dem die
Schwestern gesprochen hatten. Oder liegt es an denen da droben, daf3
alles so glanzlos ist, trotz des grellen Lichtes? Dag jede Programmnum-
mer gleich fade sdimeckt: Beethoven-Sonate, Mozart-Menuett, Verdi-
Arie, Miinchhausen-Ballade and Wilhelm-Busch-Vers . . . Steril, wie
Krankenhauskost, bei der man die bemahte Zubereitung schmeckt, and
der dock die besondere, personliche Wurze fehlt!
Da sag man, war ausgehungert nach der geliebten Kunst, hatte sick
gefreut wie ein Kind and alles andere daruber vergessen: Dais man kei-
nen Besuch empfangen. and in keinen Spiegel sdiauen durfte. Und jetzt
kam die Enttauschung. Sie brachten ein Programm mit Gummiecken:
Wenn es irgendwo anstief3, durfte es nicht weh tun. Es stief3 nirgends an.
,,Klappt wirklich glanzend", sagte Wolgrass zu den Herren rechts and
links von ihm, als eine kurze Pause vor dem zweiten, dem heiteren Teil,
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angesagt wurde and unterdrUcktes Stimmengewirr hinter ihm einsetzte,
wobei man die seltsam gehemmten, lallenden Laute der Kiefernver-
letzten heraushorte. ?Die armen Teufel kommen dock mal auf andere
Gedanken.`
Die Kanstler oben fiihlten sick unbehaglich.
,Es ware besser, sie lief en uns 'n bifichen auf die Tube drucken", sagte
der Komiker, and der eine oder andere der Kollegen gab ihm recht.
Nut der Oberregisseur meinte, es sei alles recht niveauvoll, wobei er
die Kollegen nochmals mit allem Nachdrudt bat, auch im zweiten Teil
streng bei den vereinbarten Texten zu bleiben. Bei dieser Bitte sah er
besonders auf den Komiker. Er wui3te, wie leicht der in Gefahr kam,
auf ein dankbares Lachen bin zu entgleisen, vom Hundertsten ins Tau-
sendste zu kommen, and das hief3e hier, sid- mit Sidierheit auf gefahr-
lidies Gebiet, vor allem das der erotischen Anspielung, begeben.
Der Komiker machte ein beleidigtes Gesidit and flusterte: ?Doktor,
mit mir haben Sie dodi noch nie Kummer erlebti"
,Fast nur', dadite Hellweg and sagte: ,Ich weif3, daft ich midi auf
Sie verlassen kann."
Wenn die Sdiwestern des Reservelazaretts den von ihnen Betreuten in
der Abteilung fur Gesiditschirurgie - neben den Blinden machten ihre
Insassen den grof3ten Teil des heutigen Publikums aus - nadi Einzel-
heiten ihrer Gesidits- and Kiefernverletzungen bestimmte kennzeich-
nende Beinamen gaben, so lag darin keine Gefuhllosigkeit. Es war dies
vielmehr eine Praxis, die sick in beruflidhen Gesprachen als nutzlich er-
wies. Da nannten sie einen Nasenlosen den ,Pekinesen', den mit dem
ausgelappten Kinn das Latzchen', einen schiefmundigen, zahnlosen
Neunzehnjahrigen den ,Opa', den Mann mit der Silberplatte, anstelle
der weggerissenen Schadeldecke, Teekannchen' and den Jungen mit dem
unnaturlich blauvioletten Gesicht das Veilchen'.
,Veilchen' hatte fiinf Semester Germanistik in Leipzig and Munchen
hinter sich and hatte in Munchen durch seine erste Seminararbeit fiber
Rilkes Malte Laurids Brigge' nicht nur bei seinem Dozenten, sondern
audi bei den Kommilitonen Aufsehen erregt. Aber das Leid, das Malte
Laurids zu Paris empfand, war nicht das des jungen Panzersoldaten,
dem bei Woronesch sein Fahrzeug explodiert war, and dem Feuer and
Gase die Gesichtshaut and das eine Auge zerfressen batten. Im Buick des
Einaugigen verloren die Dinge ihre Plastik, and was die Dichter Sdimerz
nannten, wurde seiner neuen Sdiau zum Unvermogen, das Gluck zu
ertragen.
Anders war audi sein Verhaltnis zur Musik geworden. Sie verlor
alles Eudamonistisdie fur ihn. Beethoven and Schumann, Schubert and
der heitere' Mozart wohnten am Abgrund des Leids, and ein sandiger
Malstrom zog die Singenden der Welt in seine Tiefen and machte ihre
Mender stumm.
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Nun wurde hier gegeigt und gesungen, sehr sauber, sehr gekonnt und
vorsichtig, mit viel zartfUhlender Rilcksichtnahme. Aber es war ein selt-
sames Maskenspiel, bei dem keiner das eigene Gesicht zeigte und jeder
des wahre Gesicht der von ihm vermittelten Kunst - aus Absicht oder
Unvermogen - verbarg. Die droben im Licht hatten unentstellte Gesich-
ter, deren sie sick, nach den Begriffen der Gesunden, nicht zu schamen
brauchten. Im Dunkeln aber saien die Miigestalteten, deren Antlitze
natOrlicher Proportionen spotteten, und sehnten sich, oft unbewufit, nach
Harmonic. Man bot iinen, statt Brot und Wein des Lebens, hiibsch
aufgeputztes Kunstgewerbe fur Stuben, die sie nicht mehr besaien.
'So ging es auch in der zweiten Programmhalfte weiter, die trauriger
wurde, je mehr sie heiter rein wollte. Vielleicht hatte der Komiker recht:
vielleicht ware die Fratze des Klamauks` den armen Fratzengesichtern
gemaf3er gewesen . . . Bis auierprogrammaflig ein paar Worte fielen,
die eine seltsame Wirkung i bten, wie sie wahrscheinlich die Sprechende
selbst weder beabsichtigt noch erwartet hatte. Die kleine, blonde Sou-
brette, ein junges Madchen von naturlichem Empfinden und einem ge-
wissen unaffektierten Charme, hatte ein Chanson zu singen, Komm in
meinen roten Salon', ein Lied, urn dessen Moglichkeit auf dem Pro-
gramm des heutigen Abends sich vorher eine Diskussion entsponnen
haste. Schliefllich war man ubereingekommen, dali der Text doch recht
harmlos sei, und daf3 er obendrein durch die sympathische Vortragsart
der Kleinen jeder zweideutigen Auslegung entzogen werde.
Man hatte dabei nicht uberlegt, daf3 gerade dieses Lied ein gewisses
Extemporieren und Improvisieren verlangte, da in jeder der drei Re-
frainstrophen einige Takte Musik ausgelassens waren, und die entste-
hende Pause von der Vortragenden, je nach Ort und Umstanden, mit
einigen rasch hingeplauderten Satzen gefullt werden mufite. Dock hatte
sick die junge Sangerin diesmal etwas zu unbedacht auf ihre witzige
Sdilagfertigkeit gegeniiber einem Auditorium von Mannern verlassen.
Als der Flugel verstummte, stand sie vor ihrem unsichtbaren Publikurn
wie vor einer unuberspringbaren Horde und lief3 die Pause um einige
Herzschlage linger werden, als vorgesehen war. Dann fiihlte sie, was
da an Elend vor ihr sitzen musses begriff, was es von ihr an Trostung
verlange - und wagte den Sprung Ober die Hurde.
Mit einem Male gab es einen Menschen, der die vom Elend Geschlage-
nen nicht als Elende, die des Mitleidens Wurdigen nicht als Bemitleidens-
werte, aber auch die Manner nicht nur als Manner nahm. Die Sangerin
sprach einige heitere, herzhaft kameradsdiaftliche Worte, und alles
Drum und Dran des musikalischen Konfektionsmachwerks wurde nichtig
gegenuber diesem F illsel, ja empfing von ibm sogar ein wenig iiber-
strahlenden Glanz. Das wiederholte sich bei jeder der drei Strophen,
stets noch etwas echter und personlicher.
Zuni ersten Mal an diesem Abend brach jubelnder Beifall los. Der
Oberspielleiter, dessen ZUge sich angstvoll verkrampft hatten, atmete
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auf, and Dr. Wolgrass, der die Gefahr des Improvisierens nicht bemerkt
zu haben schien, sagte, zu seinem Nachbarn gewandt:
jamoses Personchen. Zweifellos ein Hohepunkt."
Stabsarzt Dr. Blumenschneider nickte zerstreut and 1ief3 seine Blicke
nicht von deco Abendkleid der dramatischen Sangerin.
Der Student and ehemalige Obergefreite Hirz, das Veilcben' der Sta-
tionssdiwestern, war vollig verwandelt. Was war ihm geschehen? Nicht
Musik hatte In uberwaltigt; denn das verklungene Chanson war kaum
mehr als eine mit sicherern Wirkungsinstinkt zusammengefugte Hand-
werksarbeit. Und dock war musiziert worden. Ein Menschenherz hatte
geklungen. Das war viel. Es genUgte, urn wieder ein Verhaltnis zurn Le-
ben and zur Welt zu schaffen.
Einen Augenblick lang uberlegte Hirz, ob er nach diesem Lied nicht
lieber gleich auf sein Zimmer gehen sollte. Aber er sag inmitten einer
Reihe von Kameraden, die zum Teil weder allein aufstehen, noch sich
von den Platzen bewegen konnten. Also blieb er. Er sparte, wie das
Summen um In anders war als vorher, das Lallen derer mit den zer-
schmetterten Kiefern, das aus den Mundwinkeln hervorgepfiffene Spre-
chen der Sdiiefgesichtigen intensiver and bemuhter. Verwandelt waren
alle, wenn auch vielleicht anders als er. Hirz nahm die beiden letzten
Nummern des Programms gutwillig hin and amusierte sick sogar caber
die Bemuhungen des fulligen Tenors, der offenbar den Triumph seiner
Kollegin nosh iiberbieten wollte, and in seinen beiden letzten Arien mit
allem Glanz seiner beruhmten hohen C's brillierte.
Der Tenor verursachte durch eine auf erprogrammaf3ige Zugabe den
bis zuletzt vermiedenen Zwischenfall. Er sang eins der grof3en Lehar-
Lieder, die vielen Sangern zu einem Prunkstuck ihrer Kehlfertigkeit and
schwelgerischer Gefiihlsentfaltung geworden sind: Freunde, das Leben
ist lebenswert'. So schmelzend, hinreif3end sang er es, daf3 viele ihm
heftig applaudierten, besonders die jungen Schwestern in der letzten
Reihe. Aber noch in den abebbenden Beifall hinein sagte einer in dem
dunklen Saal mit rheinischem Akzent:
?Dat Leben is Schiet!"
Einige stimmten lachend zu, als sie dieses Wort horten, das oft in
schweren Situationen fur sie eine erlosende Kraft besessen hatte. Andere
machte es traurig, weil es sie wieder an ihren erbarmlichen Zustand er-
innerte.
?So ein Idiot!" sagte Dr. Wolgrass, als er den Tenor beim Schluf3ap-
plaus sich wohlgefallig in den H iften wiegen sah. ?Aber den Janus muff
ich mir trotzdem mal vorknopfen. So geht's ja nun auch wieder nicht .."
Der ,Janus` war ein Mann, an dem bisher alle Gesichtsoperationen
gescheitert waren, and der nun auf spukhafte Weise zwei Gesichtshalf-
ten hatte: eine ladiende and eine weinende. An seinem: Deutzer Vor-
stadtjargon horte man In immer and uberall heraus. Er fand oft den
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richtigen Ausdruck fur eine Lage. Nur hatte er In heute nicht aufiern
durfen ...
Den gewesenen Studenten Hirz, der nie wieder ein Student sein
wiirde, hatte eine fieberhafte Entschlufifreude gepackt. Der Plan, der
vor ihm auftauchte, mochte wohl nach einem Studentenstreich ver-
klungener Zeiten aussehen, er hatte vielleicht auch etwas sportlich Ver-
wegenes an sich - wahrscheinlich aber entsprang er nur der Gier, das
Leben zu packen, die ein albernes Lied in ihm erweckt hatte. Wieder
einmal Mensch sein dUrfen, nicht mehr Lazarett- und Stammrollen-
nummer, weder Patient nosh Dienstgrad - weil man von einem Men-
schen angerufen worden war! Ihn hatte das Madchen gerufen - In
allein ... Gemeint war Jochen Hirz, als die Sangerin in unverbind-
lichen Plauderworten in ihren roten Salon einlud - und als sie spie-
lerisch ihre Adresse angegeben hatte, mit dem Zusatz: Ubrigens gar
nicht weit von bier.`
Fur alle andern mochte das unverbindlich sein - Jochen Hirz emp-
fand es nicht nur als eine sehr verbindliche, sondern geradezu als ver-
pflichtende Einladung. In Munchen war er auch einmal nachts zu einer
Kunstgewerblerin gegangen, unmittelbar anschliefiend an einen Fa-
schingsball, und das Beisammensein war sehr schon geworden ... Frei-
lich ist es etwas anderes, wenn man in normalen Zeiten in einem gold-
befransten spanischen Kostum, als gut aussehender junger Mann sick in
ein naditliches Abenteuer begibt, als wenn man einaugig, mit einem Ge-
sicht, das man nicht im Spiegel sehen darf, dessen zerfressene Oberflache
man aber mit den Fingern spiiren kann, zu einem Madchen geht. Viel-
leicht begehrte man gar nicht das Madchen, sondern sehnte sich nur nach
einem Menschen, nach dieser bezaubernd sympathischen Stimme.
Nach Schlui der Veranstaltung waren die Kunstler in das groile
Arztezimmer gebeten worden, das schrag gegenuber vom Kranken-
saal IV lag. In diesem Saal sail Hirz nosh auf seinem Bettrand, wahrend
die meisten Kameraden schon schliefen. Nur zwei oder drei unterhielten
sich flusternd uber die Darbietungen des Abends. Im Arztezimmer wur-
den die Stimmen bald lauter, und die des Komikers ubertonte alle an-
deren.
Was der junge Mensch im Halbdunkel des Krankensaals besdilol,
hatte hirnverbrannt erscheinen mussen, wren nicht in diesem Krieg,
in dem man fur den Tod lebte, das Phantastische und Sinnwidrige
langst zum Alltaglichen geworden. So betrachtet wurde es nicht einmal
eine so groie Angelegenheit sein, wenn ein junger Mensch nachts eine
Uniform anzoge, die ihm nicht gehorte. - Dr. Blumenschneider hatte
heute zu Ehren der Kanstlerinnen seine erste Garnitur angezogen, und
die zweite ping griffbereit im Wandschrank auf dem Gang - und wenn
er das Lazarett durch das Toilettenfenster im Erdgeschoi und durch den
Garten verliefie, wo keine Postenkontrollen drohten. Nach Kriegsrecht
war es zwar ein lebensgefahrliches Stilck, aber haste man nicht die Jahre
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her Gefahrlidieres, ja Tollkuhneres taglich verlangt? Dafur dag man
abgebruht war, zeugte das verbrannte Gesidit.
Gegen ein Uhr nadits schwoll in dem Zimmer auf der anderen Gang-
seite das Stimmengewirr nosh einmal an, wie das immer geschieht, wenn
Aufbrudi and Abschied unmittelbar bevorstehen. Deutlidi hone man
Dr. Blumensdineider sprechen and Komplimente drediseln.
Audi die kleine Soubrette *erstand man jetzt. Sie bedankte side fur
einen sdionen Abend.
Es wurde wirklich keine grope Sadie fur Jochen Hirz: alles lief bei-
nahe selbstverstandlidh ab. Als es auf dem Gang still geworden war,
ging er hinaus. Der Griff in den versdilossenen Schrank gelang ihm mit
Leichtigkeit. Wenn alles programm9f3ig verliefe, wurde vor Tagesgrauen
die Uniform ebenso unbemerkt wieder an ihrem Platz hangen. Keine
Postenstreife wurde sick datum scheren, wenn dutch die verdunkelten
Straf3en der Stadt ein falscher Stabsarzt ginge ... Dennoch war es ein
seitsames Gefuhl, auf einer nachtlidien Strage zu sein, zum ersten Mal
seit zwei Jahren. Hirz hatte das Empfinden, als schauten Mensdien aus
allen Fenstern, and als blickten ihm auf Sdhritt and Tritt Voraberge-
hende fragend ins Gesicht: Weif3t du nidht, warum du nie die Strage
siehst, and warum die Straf3e dich nicht sehen darf?
Es war kuhl drauf3en. Im Lazarett herrsdhte sommers and winters
fast die gleidie Temperatur: eine schlappmachende Lauheit, erfullt
von den immer gleichen Geriidien and Ausdiinstungen. In der klaren
Luft erschien langst nidit mehr alles so selbstverstandlich wie vorher.
Burgerlidie Mietshauser pflegten nachts verschlossen zu sein, and man
trat nicht einfadi ihre Turen ein, wie man es im Felde gelernt hatte.
Audi waren die Kunstler eine Viertelstunde friiher aufgebrodien als der
Verwundete. Das Madchen konnte, etude von der Veranstaltung and
der Nadifeier, gleich zu Bett gegangen sein. Uberhaupt war es ein wahn-
sinniger Gedanke, nachts um Zwei an der Tur eines fremden Menschen
zu klingeln .. .
Jochen Hirz sdiaute auf die Hausnummern. Es waren selbstleuditende
Nummern - and damit schien eine Schwierigkeit aus dem Wege ge-
raumt, an die er vorher nicht gedadit haste. Da war schon das Haus
mit der gesuchten Zahl, ein Eckhaus, grog and finster, in dem sick unten
eine Apotheke befand. Nur ein Zimmer im dritten Stock war node hell
- man sah es an den feinen Lichtritzen zu beiden Seiten der Verdunk-
lungsvorhange.
Der gewesene Student sdiaute zu den Fenstern hinauf. Fruher hatte
man vielleicht den Schatten einer side auskleidenden Gestalt hinter
den Gardinen erkennen kSnnen, aber der Krieg hatte soldien roman-
tischen Junglingsentzuckungen ein Ende gemacht. Man wurde sehen, wie
die schmalen Liditritzen erlosdien, dann ]age das massige Haus wie ein
unnahbares Gebirge schweigend in der Nacht. Man wurde ins Lazarett
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zuruckkehren and die Uniform wieder in ihren Schrank hangen. Immer-
hin ware man dann einmal draui3en gewesen, and dali es heimlich ge-
scheh.en war, gabe dem Ausflug seinen Reiz.
Jetzt wurden Schritte auf der Strafle laut. Der falsche Stabsarzt
druckte sich an die Mauer des gegenuberliegenden Hauses. Ein Mann
ging voruber. Er zog einen Schlusselbund - das vertraute, rasselnde
Gerausdi, das einem seit langem fremd geworden war -, and es tat
sich die Tur auf, die man in seinen vorauseilenden Gedanken von An-
fang an offen gesehen hatte. Nun wiinschte man beinahe, sie rasch wie-
der zufallen zu horen, ihr Einschnappen ins Schloll and das Zusdilieflen
von innen zu vernehmen. In dem blaulichen Treppenhauslicht meinte
Hirz im Augenblick des Turoffnens eine untersetzte, fullige Gestalt zu
erkennen - jetzt sah er einen Schein dieses fahlen Lidites hinter bunt
verglasten Fenstern durch alle Stockwerke hindurch. Als es erlosch,
wulite er, dai3 drei Minuten um waren. Dreiminutenbrenner .. .
Es wurde Zeit, der Sache ein Ende zu machen; denn sie war nicht
nur absonderlich, sondern auch entwurdigend. Der Entschlufi, zu gehen,
fiel Hirz nicht mehr schwer. Irnmerhin iiberschritt er noch einmal die
$traue, wie es eben der spate Passant getan hatte. Er folgte seinen
Spuren bis zur Haustiir and dri c to mit der Hand, wie absdiiedneh-
mend, dagegen.
Die Tur tat side auf. Es war eine selbstschlief3ende Mir, die, halb
im Schlo8 hangengeblieben, side leicht dem Druck von auflen offnete.
Der ehemalige Student Jochen Hirz, der Obergefreite in der ange-
mafiten Uniform eines Stabsarztes, stand in einem kuhlen Treppenhaus,
in dem es nach der Apotheke rods - ahnlich wie im Lazarett, nur ir-
gendwie ziviler. Man war in einem Privathaus. Kein Posten stand am
Full der Treppe. Man drUckte auf einen Knopf, and mit leisem Knak-
ken schaltete sich dienstbar das Licht ein. Man stieg auf Laufern die
Stufen hinauf - auch dieses Gefuhl mulite man wohl nosh einmal im
Leben mitbekommen - and las auf Messingschildern fremde Namen.
Dritter Stock! Drei Wohnungseingange wie in alien anderen Etagen.
An einem mulite ein bestimmter Name stehen. Der Name war wirklidi
da - seltsam, ihn so zu lesen! - and da man ihn las, packte einen
die Lust, auf den Klingelknopf zu drucken.
Hirz tat es dennoch nidit. Er ging weiter die Treppe hinauf - mit
derv Gefuhl, das er als Kind empfunden hatte, wenn man ihn beim
Suchen nach einem gewissen Gegenstand mit den Rufen heig' and kalt`
hingeleitet hatte. Kiihler wurde ihm ums Herz, je mehr er sich von der
Tur entfernte.
Warum ging Jochen Hirz uberliaupt weiter, zum vierten and funften
Stock? Wollte er blofl wieder einmal in einem gutburgerlidien oder
,herrschaftlichen` Haus - so hiel3 das friiher in den Mietangeboten -
die Treppe hinauf- and hinuntergegangen sein? Nicht mehr? Nicht mehr.
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Im funften Stock kehrte der Soldat urn and schritt auf den dicken
Laufern leise wieder treppab. Er dachte jetzt schon daran, wie er un-
gesehen durdi den Lazarettgarten kommen wfirde, als mit einem Knak-
ken die Treppenbeleuchtung erlosch. Einen Augenblick lang wuf3te er
nicht einmal, in welchem Stockwerk er sich befand. Als er durch das
Schlusselloch einer Tfir einen Liditstrahl sah, wuf3te er es sehr genau.
Wieder fiberkam In das gleiche sehnsuchtige Gefiihl, das ihn zu diesem
torichten Abenteuer veranlaf3t hatte.
Und dock loste dieses Empfinden die nachfolgenden Gesdiehnisse
nicht aus. Durch einen Zufall verfehlten seine tastend an, der Wand
entlangfahrenden Finger den Lidrtknopf and bewirkten ein kurzes,
schrilles Lauten. Der richtige Schalter wurde zwar gleich danach aufge-
spurt, aber das Geschehene war nicht mehr rackgangig zu machen. Hirz
hatte sich seinen Folgen entziehen konnen, indem er rasch die Stufen
hinabgelaufen ware. Doch das vermochte er jetzt nicht, oder er wollte
es schon nicht mehr.
Er horte in der Wohnung eine Tur klappen and vernahm leichte
Schritte, die side nicht sofort der Korridortur naherten. Vielleicht war
die junge Sangerin schon im Neglige. Sie wurde vermuten, ein Tele-
grammbote stUnde drauf3en, wurde in ihre Schuhe sdilupfen and side,
nach Frauenart, vor deco Spiegel node einmal fibers Haar fahren. Wie
dem auch sei, man mu[3te sie jetzt erwarten. Man wurde etwas Albernes
stammeln - oder einfach die Wahrheit sagen: von den versehentlich
vertauschten Schalterknopfen. Ein kleiner Zwischenfall, ein belangloser
Dialog: Verzeihen Sie' - ,oh, bitte sehr!` Nadi diesen drei, vier Worten
wurde man den Nachklang einer bezaubernden Stimme in der Erinne-
rung behalten. . . Es dauerte eine Minute, hochstens zwei, bis sick die
Sdiritte der Tur naherten. Das fahle Treppenlidit war node nicht zum
zweiten Mal erlosdien, als von innen eine Sicherheitskette beseite ge-
sdioben and eine Hand auf die Klinke gelegt wurde. Hirz stand auf-
gerichtet - die Uniform Blumensdineiders sa13 ihm wie angegossen -
bereit zu einer kurzen Verbeugung and einer konventionellen Entschul-
digung. Er kannte sich and hatte side jetzt wieder vollig in der Gewalt.
Er kannte sick, aber er sah sick nicht. Das Maddien sah ihn, das die
Tur offnete. Es sah weder die Uniform noch die Rangabzeichen, nur
ein entsetzliches Gesicht, das nichts Menschliches hatte. Ein Auge, gleich
dem des Polyphem, verfarbte, zerfressene Haut, die in dem blaulidien
Treppenlicht noch spukhafter wirkte - als ob da einer geradewegs aus
dem Grabe gestiegen sei. Die junge Sangerin begann zu schreien. Sie
schrie durchdringend, lief zu einer Tur der Wohnung and rief etwas. Sie
rief jemanden zur Hilfe herbei.
Was Oder wen sie rief - Hirz war es gleichgultig. Er rannte die
Treppe hinunter. Er hone nosh einmal die Stimme, die ihm nadirief.
Vielleidht war jetzt sogar wieder der Beiklang da, den er hatte horen
wollen, and vielleicht hatte das Maddien inzwischen begriffen, woher
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ihr spiter Besucher kam -, den Davoneilenden hielt nichts mehr auf.
Er vernahm nicht einmal, dais im Augenblick, als ihn unten im Trep-
penhaus erneut die Finsternis i1berfiel, zwei Stimmen hinter ihm her-
riefen - die zweite Stimme war die eines Mannes, eine Stimme mit
tenoraler Farbung ... Hirz tastete auch nicht mehr nach dem Licht-
schalter. Seine hastigen Finger suchten die schwere Haustor, die sick
langsam hinter ihm schlofs ...
Jochen Hirz hatte sich zum ersten Mal gesehen - - in den Augen
einer Frau. Und in ihrem Schrei, diesem entsetzten Aufschrei, wurde
sein Urteil gesprochen. Weg mit aller Luge und professionellen Tro-
stung: Bringen wir wieder ganz gut in Ordnung!' und was so die
Arite sagten! Den Menschen bringen sie nicht wieder in Ordnung.
Jochen Hirz lief davon - dem Lazarett, den Arzten und rich selbst.
Er wollte keine Uniform mehr an ihren Platz hangen, er dachte nicht
einmal mehr daruber nach, dais er eine Uniform trug. Er rannte durch
fremde Stra1 en einer fremden Stadt, und der Verfolger, der ihn hetzte,
liefs nicht von ihm ab. Jochen Hirz hiefs der Verfolger, Jochen Hirz der
Verfolgte. Da der Jager und sein Opfer die gleiche eiserne Willenskraft
hatten, wurden sie einen weiten Weg zurucklegen mussen, bis sie das
Rennen aufgiben.
Der Mond war fiber den Dachern heraufgekommen - er schien nosh
sehr hell -, aber man brauchte kein Licht, wenn man kein Ziel hatte.
Man brauchte keinen Gedanken, keinen Willen, kein Gefiihl. Vielleicht
ware es trostlich gewesen, zu wissen, dais man irgendwo das Veilchen'
genannt wurde. Die Bezeichnung ordnete etwas Unnatorliches und
Auisernati rliches in die Grenzen natiirlicher Verhaltnisse ein. Oder
ware eben these Einordnung das Widernaturlichste von allem, gewesen?
Man hatte manchmal mit dem Gedanken gespielt, sein Leben verspielt
zu haben. Jetzt war es verspielt.
Die Strafle senkte sich ein wenig - das erleichterte das Laufen -,
dann glanzte Wasser auf. Die Stadt lag an einem Fluffs - man hatte
ihn nur bisher noch nicht gesehen. Umkehren? Es gab kein Zuriidc! Der
ziehende Fluffs lockte ...
Stromab standen die hochragenden Domturme der Altstadt. Sie be-
wachen den Schlaf der Burger` hief3 es in vergilbten Geschichten, und
ihre Glocken verkunden den Morgen- und den Abendfrieden.' Aber es
stimmte alles nicht mehr. Die frommen Meister hatten ihre Glocken nicht
gegossen, damit die Traume eines Dr., Blumenschneider, der Schwestern
und der Theaterkomiker sanft wurden.
Entlang dem Fluffs reihten sich vielstockige Mietshauser mit tausend
Augen, aber keinem Gesicht. Cber einem hohen, hafslich ummauerten
Gaskessel stand jetzt der Mond.
Als Jochen Hirz sich ermattet auf einer Anlagenbank niederliefs, sah
er sich unvermutet einem Denkmal gegenuber, einem rechteckigen Sand-
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steinblock, von dem ein Blumenbeet Abstand schaffte. Das Mondlidht
geniigte, daf3 man audi von der Bank aus nosh die Inschrift des Steins
lesen konnte: ,,Ihren 7000 im Weltkrieg gefallenen Sohnen. Die dank-
bare Stadt."
,Dankbare Stadt' - unnaturlidie Mutter, die side fur den Tod von
siebentausend Kindern bedankt! Der Grabstein der siebentausend SBhne
ist wie der Sdiluflstridi unter einer Bilanz: siebentausend sind aufad-
diert, and die Summe ist in den Stein gegraben worden. Danach kann
man unbesorgt eine weif3e Seite der Geschichte aufschlagen, auf der am
Ende vielleicht die Zahl 10 000 stehen wird, and wieder eine mit der
Summe 20 000. Das Gewissen wird ruhiger and die Trauer still, sobald
ein Denkmal erridrtet ist, wilrdig der Toted, wie man es nennt -
wurdig der Representation der Stadt, wenn man es ehrlidier bekennt.
Siebentausend starben, and ihr Verkehrsprospekt ruhmt eine Sehens-
wurdigkeit mehr.
In der Miindiner Universitat, erinnert sich Jodien Hirz, stand zur
Erinnerung an die Toten des Ersten Weltkrieges der Speertrager, ein
nackter griechischer Jungling. Die Studentinnen and wohl audi die Stu-
denten sahen ihn mit Wohlgefallen. Beide kokettierten auf ihre Weise
mit dem Tode, mit dem Heldentod, der die Gestalt sdioner Junglinge
angenommen hatte.
Aber das Marchen vom sdionen Tod hatten sie erfunden, um ihr Ge-
wissen still zu machen. Tausendfach im Lande war noch das h9f3liche
Leben, das geschandete and verstummelte, das sie abschlief3en wollten
von ihrem, von allem andern Leben, das sie hinter Mauern versteckten
and in spiegellosen Raumen side verbergen liel3en. Nicht den Toten, den
armeren Lebenden gebuhrten die Denkmaler.
?Wir selbst sollten Denkmaler sein!" sagt Jochen Hirz. ?Aus farbigem
Marmor alle Haf3lichkeit unserer zerstorten Antlitze gebildet, das
Schiefe der elenden, nasenlosen, kinn- and kieferlosen Gesiditer, ohne
das Ebenmaf3 glattender Steinmetzarbeit. Keine Absdilul3striche! Die
Wunden offen halten, nicht umblattern das Buch des Todes, damit es
zum Sdiuld- and Lehrbudi der Lebenden werde."
Dann steht er auf, der Mann in der fremden Uniform mit dem Veil-
chengesidrt. Auf der side dem Flu13 entgegensenkenden Stral3e hat er die
Tritte von Soldatenstiefeln gehort. Er erkennt im Mondlidit Stahl-
helme. Eine Streife.
Die Manner sollen mit der Kontrolle keine Muhe haben. Wasser
rauscht auf, and das Mondlicht zittert auf seinen verebbenden Ringen. .
Am nadisten Morgen kommt eine junge Frau, ein blasses, verhuschtes
Wesen, zum Lazaretteingang. Der behelmte Posten versteht nicht recht,
was sie will, and der voriibergehende Stabsarzt Dr. Blumenschneider
bleibt stehen.
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?Sieh mal an", ruft er scherzend, das Fraulein aus dem roten Salon!"
Im nuchternen Morgenlicht wirkt die Kleine vollends unscheinbar.
,,Ob einer von Ihren Zuhbrern heute Nacht Urlaub gehabt hat?"
bviederholt Blumenschneider etwas verwundert die Frage, die sie ihm
stellt. ?Keine Angst, mein Fraulein. Von denen darf bier keiner raus..."
Ehe er sich mit elastisch wippenden Schritten zur Station IV begibt,
zieht er mit einer gewohnten Bewegung seinen Uniformrock stramm.
Es ist nosh immer die erste Garnitur vom Abend vorher, weil die zweite
auf unbegreifliche Weise aus seinem Wandschrank verschwunden ist.
GEH DURCH DIE STADT UND SIEH
Die Alten, nadimittags.
Stumm auf den Bankei~ der Parks.
Warten. Worauf?
Polizisten, in Wolken von Auspuffgasen.
Dompteure: die Autos kuschen.
Wer hort den Knall der Peitschen?
Arzneireklame: ?Erfolgreiche haben
keine Zeit fur Schmerzen!"
Und umgekehrt?
Kinder auf dem Schulweg:
aufs Ampelgrrin konzentriert.
Wohin tun sie die anderen Eindriidce?
Ein eiliges Taxi:
Der feine Herr kommt fruher ans Ziel.
An welches?
Cafe im Freien. Bunte Oase:
Tische, Stuhle, Sonnensdiirme.
Die hier aufatmen, was atmen sie ein?
Studenten stromen aus Horsalen.
Reich ist das Leben des Geistes.
Und die Lehrlinge?
Straf enkehrer
beseitigen Schmutz and Unrat.
Sind die Besen fein genug?
Zeitungsverkaufer:
?Die letzten Weltnachrichten!"
Schon die letzten?
Der Himmel lachelt freundlidi
dem steinernen Meer.
Was meldet der Wetterbericht?
Geh dutch die Stadt and sieh.
Helmut Lamprecht
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LITERARISCHE RUNDSCHAU
Ein literarisches Ereignis nach 150 Jahrcn
Charles du Bos, zusammenschauender Analytiker und Spi rhund in
der Unermef3lichkeit Seele, meint einmal von sich, er sei fraglos ein rein-
blutiger Subjektivist und konne doch nicht anders als sick auf die objek-
tive Ebene begeben, finde er sich jemandem, er ei wer immer, gegenuber.
Vom andren werde er gleichsam ohne Unterlaf3 fasziniert, und also
bleibe er ununterbrochen dabei, sich um das Objekt seiner Studie zu
bemuhen.
Ebenso hat es vor mehr als hundertfunfzig Jahren, sehe ich recht,
Friedrich Schlegel gehalten. Zwar sagt ein zeitgenossischer englischer
Kritiker ihm nach, ihm babe jegliche schopferische Einbildungskraft ge-
fehlt, wie es die ?Lucinde" zeige. Ein Heine spottete, selbst wahrlich ein
zuzeiten irrlichternder Scholare, hinter den ?Rezepten fur anzuferti-
gende Meisterwerke der Zukunft" stehe nichts als die poetische Ohn-
macht beider Schlegel; jedoch habe unser Friedrich, gesteht der Beflis-
sene zu, an einer Oberfulle theoretischer Ideen geradezu gelitten, derart,
daf3 ihm vieles davon entglitten sei, ehe daf3 er dessen habe habhaft
werden konnen.
Wie dem auch sei, sehen wir uns in einer der wichtigen Publikationen
der letzten Jahrzehnte, soweit sie sick mit der literarischen Kritik be-
fassen, einem Feuerwerk von Gedanken und Entwurfen, geschliffenen
Aphorismen und genialen Einfallen ausgesetzt, dal wir; unsererseits
redlich fasziniert, wenige Zeilen aus diesem Arsenal der rastlosen Denk-
bewaltigung fur mehr als nur eine gute und fesselnde Bettlekture neh-
men, fur die es immerhin auch jener Schlegel mit Reserve begegnende
Brite erklart. Wir Sind versucht mit Novalis auch fur diesen seinen
Freund, dem so viel an jeder theoretischen, einzig auf Geist eingeschwo-
renen Begrundung liegt, gelten zu lassen, was der Schwarmendere der
beiden dahin bezeichnete, jeder Gegenstand sei der Mittelpunkt eines
Paradieses.
Wie war es dock damals? Rousseau, Herder und auch Goethe beein-
fluSten die Jiingeren, ihnen ihre Einsaat zur Ernte bei gehoriger Zeit
uberlassend. Doch ein auf Lessing zuruckgreifendes kritisches Gewissen
gab sick damit nicht zufrieden, hielt sick auch anderen Sonnen bereit.
Dank der gediegenen Arbeit des an der Queens University zu King-
ston-Ontario in Canada tatigen Hans Eicbner haben wir nun endlich
fur die Jahre 1797-1801 von den Notizbi chern Friedrich Schlegels einen
zu dem Kommentar und kritischen Apparat bietenden handlichen Band
vorliegen: ?FriedricbScbleget, Litterary Notebooks"-1797r1801(deutsch)
Edited with introduction and commentary by Hans Eicbner, University
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of Toronto Press 1957 8? 344 pp. 7.50 canad. Dollar -. Bisher hatte nur
dieser oder jener die nun in Marburg lagernden Hefte eingesehen. Zu-
vor ist der Text nicht veroffentlicht worden. Etwa die Hilfte der ur-
sprunglich 180 Hefte ist nosh vorhanden. Aus den fur Schlegel frucht-
barsten Jahren bietet der vorliegende Band 2191 Fragmente, Notizen,
Beobachtungen, denen in der Mehrzahl der Feueratem eines vom jewei-
lichen Thema Besessenen mitgeht.
Bei alter Vielfalt der Problemstellung ist das Ganze der Bruchstucke
von einer erstaunlichen Einheitlidikeit, so wenig man trockenes Dozieren
findet, and das nicht nur im Kalku.l and der Diktion. Schon das gleich
dem Cbrigen sorgfaltig gearbeitete Sachregister bietet eine Fi lle zahl-
reich belegter Themen: Abstraktion, Allegorie, Analyse, Antike, Ara-
beske, Asthetik, aber auch Absicht, Anschauung and etwa Araber finden
sick dort, um nur beim ersten Buchstaben zu bleiben.
Spi ren wir nun die einzelnen Eintragungen auf, so reiten wir all-
sogleich quasi Hohe Schule. Es ist immer wieder ein atemberaubendes
Geschehen, einern rastlos titigen Geist zu begegnen, mit dem wir wie
im Flug auf zuvor nie betretenes Neuland kommen. Danach mutet es
uns weniger an, dem Autor bei diesen Notizen, was wir gewif3lich tun,
caber die Schulter zu sehen als daf3 wir uns beherzt bei der Hand ge-
nommen spiiren. Einiges mag immerhin verblai3t rein; kein Immortel-
lenblatt abgeben, was zu jener Zeit der Niederschrift mehr als? blo13
ein tappendes: Bemuhen gewesen ist. Dem ?Zeitgeist" zu pflichten, ist
auch aufrecht Unabhingigen nicht vollig erlassen. Gleichwohl kommt
einen audi dann nicht an, dem Verfasser zuzurufen, doch einzuhalten;
es sind Unvollkommenheiten, die dern Gesamt niches an Bedeutung
nehmen.
Schlegel kam seine Weltlaufigkeit zugute, eine Souveranitat auch im
Sozialen, die aufs lautloseste bezwingt, womit nicht jedermanns Schuh
ungesdioren bekannt werden mag. Er bewegte sich aufs gleichmutigste
in den l.iterarischen Zirkeln and er erwies sich sogar dort als vollig eigen-
standig, seiner Wirkung gewil3, wo man nur zu gern jemanden ver-
schleilit, dessen Gepick gewichtig genug ist, fur Zeit and Nachzeit zu
Nutzen and Gewinn der Allgemeinheit uberantwortet zu werden.
Es wundert uns nicht, zurnal ad Shakespeare vieles aufgezeichnet zu
finden. Nach wie vor ist uns die Cbersetzung der BrUder Schlegel un-
entbehrlich. In England weill man, daf3 rich der hohe Stand der Wie-
dergaben seiner Studte nicht zuletzt aus der Form, Sprachkraft and
schopferischen Aneignung im Werk eben der Bruder Schlegel herleite.
Dabei kommt uns angesichts der gleidilautenden Beurteilung etwa im
theoretischen Werk eines Paul Ernst garnicht recht zum Bewuf3tsein,
wie original die Einstellung Friedrich Schlegels zu Shakespeare ist, er
gehare der ?antiklassisdien Kunstpoesie" zu. Freilich, Shakespeare ist
der sittlichste unter den modernen Autoren, and auch in dieser Hinsicht
ahnelt er Solihokles", wie denn caber dem gesamten Altertum ein ?Haudi
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von Gottlichkeit" liege and die ?Alten" von ihm ?als ein einziger Autor"
genommen werden.
Garnicht tastend geht's dahin: ,Poetische Individualitat. Sinn dafUr
hat man erst aus den Modernen. Absolute Kritik lernt man nur
aus den Alten". Herzerfrischend dann das knappe ?Die Kritik it
gleichsam die Logik der Poesie". Und damit sind wir bei einem der
immer wieder umschriebenen Begriffe dieses nicht leicht zu erschopfenden
Buches, der ?Poesie". Wie wunderbar berUhren sich etwa ?Das einzige
Prinzip der Poesie ist Enthusiasmus" and Die einzige gultige Beglau-
bigung des Priesters ist die, dag er Poesie redet"! Wobei nicht eigens
anzumerken bleibt, der Theologe im Priester sei damit keineswegs,
durchaus anderer Methodik unterstehend, verkannt oder verstritten.
Im iibrigen stetes Licht, wie von einem Fixstern: ?Takt ist Urteil
aus Instinkt", Niedertraditig ist es, dag die Menschen glauben, wer
liebe, sei blind". Es wetterleuchtet durch die Bemerkung ?Schiller and
Klopstock sind Hilften eines Ganzen, wiirden zusammen einen guten
prophetischen Dichter ausmachen". Blitzhaft aufhellend hingegen
,,Bohme ist der einzige auger Dante der das Christentum katholisch
genommen hat". Mitteninnen and dock wie ein Beschlug die Perlen
,,Wer traumen and Leiden kann, der kann auch sterben". Alle Traume
der Liebenden sind buchstiblich wahr". Jede wahre Liebe ist einzig
and ganz unendlich, kann ewig nur steigen".
Zu Goethe meint Schlegel (um 1800!), er zersplittere sick zu sehr,
doch audi, dag Iphigenie, die ?allmHhlich entstanden and adstruieret"
sei wie ?Meister", ?das grogte unter semen vermischten Gedichten"
abgebe. Hermann and Dorothea hinwiederum ist das ,herzlichste, bie-
derste, gefuhlvollste, edelste, liebenswurdigste, sittlichste aller Goethe-
schen Gedichte". Vom esprit gaulois schimmert auf, wo es heift ?Manche
Werke sind weniger ganz als Einfalle". Ob es sich von seinen eigenen
sagen lagt? Die Verzweiflung ist die Mutter der Tiefe" konnte hier-
hergehoren, woran sick mit dem Aquinaten, der die Verzweiflung aller-
dings als einer Tugend entgegengesetzt zu den schweren Sunden zahlt,
sinnvoll anschlieIlen ligt, da sie nach ihm dock ein Verlangen voraus-
setze.
Zu Musik, Malerei, Plastik - genug auch zu diesen Gebieten in die-
sem Band der momentanen Konzeption. Es heigt da, Bachs Musik sei
?kubisch", die bier von der transzendentalen Musik unterschieden wird.
Im .omeo gebe es Stellen wie in der Musik, die ewig wirken. Und Mu-
sik and Malerei seien bei den Alten gewill eben so oft in schiefer Rich-
tung, unrichtige Mischung wie plastische Kunste bei uns". Besteht hier
ein geheimer Zusammenhang mit unserer durftigen Kenntnis von Musik
and Malerei im Altertum? Bleibt hingegen fur unsere Ara zu erwarten,
dag fur spitere Zeiten just von ihnen bewahrt werden werde, als den
giiltigen Zeugnissen der abendlindischen Kulturfolge?
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-Im Dezember 1811 sdireibt S. T. Coleridge von seiner Uberraschung,
als nach einem seiner Vortrage fiber Romeo and Julia ein Deutscher
auf ihn zugekommen sei, ihm zu sagen, dali er, ware es moglich, anneh-
men musse, Coleridge habe zuvor die Vortrage Friedrich Schlegels in
Wien gehort. Bei naherem Eingehen hierauf zeigte es sich, daft laut Co-
leridge eine verbli ffende Ubereinstimmung vorliege, obwohl keiner von
beiden von einander bis auf diesen Tag gewufit hatte, nimmt man eine
fliichtige Kenntnis von Schlegels Ubersetzungen aus dem Spanischen
auf seiten des Briten aus. Coleridge kommt weiter darauf, dali die bis
in Einzelheiten der Darstellung gehende Ubereinst.immung wahrschein-
lich der Aneignung von Kants Philosophic bei beiden Verfassern ent-
stamme. Nicht ohne sick artig zu verbeugen, fugt er an, er komme aus
kritischer Begrundung, nicht etwa aus Selbstschmeichelei dazu anzuneh-
men, es bedurfe lediglich desselben grundlichen Studiums etwa der Kritik
der Vernunft, data zwei ?nahezu in gleicher naturlicher Begabung das-
selbe erstrebende" Geister wie Schlegel and er selbst es fur gewifl er-
weisen, man komme zu denselben Schliissen, unternehme man nur ein-
mutig vom selben Prinzip ausgehend hi ben wie druben dieselbe Auf-
gabe, ob es auch immer in Unkenntnis des anderen Publizisten geschehe.
Es fugt sich gut, dai nunmehr beide, Schlegel wie Coleridge, Erzvater
in beiden Sprachen der modernen groien literarischen Kritik, Erstaus-
gaben ihrer Notizhefte bekommen. Miii Kathleen Coburn gibt bei Rout-
ledge and Kegan Paul in London sukzessive das Monumentalwerk der
mit 55 Heften den verbliebenen Schlegelschen kaum nachstehenden Hin-
terlassenschaft der Notizbuchaufzeichnungen Coleridges heraus.
Davon sick anzueignen, soilten die Wachsten and Regsten nicht unter-
lassen, wie man es auch jedem hironymeischen Goldgraber ins Gehaus
wunschen mag - ruhiger, reiner and schoner soll es nach einem Wort
des Kirchenvaters in uns allemal sein, so wir den rechten Weg einschla-
gen: Wert, Rang and Inhalt dieser spat uns zuganglich gewordenen
Aufzeichnungen bestatigen uns in unseren besten Veranlagungen, sollten
wir sic uns vorenthalten? W. Windthorst
Zur Liselotte-Legende
Leopold Ranke, der die erste grofle
Sammlung von Liselotte-Briefen her-
ausge eben hat, sah in der Herzogin
von Orleans, die fiber funfzig Jahre
ihres Lebens als eine der ersten Frauen
des Landes in Frankreich verbracht
hat, den iiberzeugendsten Beweis fur
die Unvereinbarkeit deutschen and
franzosischen Wesens. Fur National-
geschichtssdireiber ist das keine Fest-
stellung, sondern eine Wertung. Es
blieb das Stichwort fur die grofle
Stuttgarter Briefausgabe and fur die
vielen popularen Auswahlbande. Das
fiihrte zu einer Literatur, die in Lise-
lotte von der Pfalz die t.)berlegenheit
des deutschen Charakters selbstgefal-
lig bestatigt sieht: eine biedere,
schlichte Frau am sittenlosen Hofe
Ludwigs XIV., die dutch dynastische
Heiratspolitik in die Fremde verschla-
gene deutsche Prinzessin, ungludclich
and stets von der Sehnsucht nach der
Heimat erfiillt.
Das lieu die Gegenseite nidit auf
sick sitzen. Es gibt ein franzosisches
Schrifttum, das in Elisabeth Char-
lotte, in der Madame, mit ihren
schlechten Manieren and Anmallun-
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gen, in ihrer Haf3lichkeit und Ge-
schmacklosiggkeit zumindest einen
Schonheitsfehler in der Umgebung
von Ludwig XIV. sieht. Man nahm
nidtt ungern die Deutsche beim Wort.
Das die franzosisdten Zustande streng
aburteilende Sittenrichtertum der Li-
selotte, deren Vater ein regelrechter
Bigamist war und die wissen muf3te,
daf3 die zeitgenbssischen deutschen
Hofe wahrlich alles andere als mora-
lische Anstalten seien, hielt im Bunde
mit Verleumdungen, denen sic silt
durdt ihren auch in politisdien Dingen
allzu losen Mund nicht ohne Schuld
schon zu ihren Lebzeiten ausgesetzt
hatte, dazu her, die Madame zu
einer pflichtvergessenen franzosischen
FUrstin zu stempeln. Besonders gerne
wurde ihr angekreidet, dafs sie nidtt
wahrhaben wollte, aus einer armse-
ligen Residenz mit drei Hemden an
den glanzvollen Hof des Sonnen-
konigs gekommen zu sein, wo sic sich
dann mit Selbstverstandlichkeit all
dem Pomp hingab, den sie silt kraft
ihrer Stellung als Frau des einzigen
Bruders des Konigs leisten konnte.
In ihren Briefen fiihrt Liselotte
ofters einen Spruch ihrer einstigen
Hofineisterin an: Es geht nirgendts
wunderlicher her alss in der welt."
Das hat sich in ihrem Nachleben be-
statigt. Aus den unzahligen Briefen
zitierte ein jeder, was ihm paf3te. Erst
jetzt liegt ein Buch vor, das liselot-
tisdt vorgeht, indem es dem zu seinem
Redite verhilft, was die Briefe der
Pfalzerin zu einem unubertrefflichen
menschlichen Dokument macht, dem
gesunden Menschenverstand: Mathilde
Knoop: Madame. Liselotte von der
Pfalz. Ein Lebensbild" (Stuttgart
1957, K. F. Koehler. Mit 12 Kunst-
tafeln. Geb. DM 9,80) gibs die erste
deutsche Biographie, die der Person-
lichkeit der Heidelberger Schwagerin
von Ludwig XIV. und den Gestalten
um sie sowohl von innen heraus als
audt vom kulturellen und politisdten
Hintergrund her geredtt wird. Die
Verfasserin halt sidt eben an die Tat-
sadten und laflt sie moglidtst unge-
trubt von patriotischen und morali-
sierenden Doktrinen zu Worte kom-
men.
Die Legenden um Liselotte waren
seit langem unhaltbar. Die Grund-
einstellung der Herzogin von Orle-
ans zu Ludwig XIV. ist durdi den
entscheidenden Fund von Michael
Strict (1912) geklart worden. Ist da-
mit eine deutsche Grundthese hinfal-
lig, so hat andererseits die neuere
franzosische Literatur uber ihren Sohn
den Regenten Philipp II., der Ma-
dame jene Geredttigkeit widerfahren
Lassen, die ihr als Mutter des Man-
nes gebuhrt, der zur Fuhrung der
Gesctidke Frankreidis wUrdig war wie
nur ganz wenige. Die Verfasserin
kennt: vorzuglich die einsctlagige Li-
teratur und berocksichtigt sic mit
groilem psydtologisdiem Verstandnis.
Daher kann sie audt von der Ehe
der Liselotte mit dem mehr ungliidk-
licten als unedlen Philipp I. ein Bild
geben, das der komplizierten Situa-
tion entsprichr.
Liselotte hat gewuf3t, dais ihr
Mann, der seine militarischen Tu-
genden glanzend beweisen konn-
te, zu Besserem berufen gewesen
ware, hatte nicht der Konig den Bru-
der in angstvoller Erinnerung an die
Fronde von allen Amtern ferngehal-
ten. Liselotte kannte die Grof3zugig-
keit ihres Mannes ihren Verwandten
gegenuber. Sic verzieh ihm schlieglidt
sogar, dais er die Verheiratung des
Sohnes durch den Konig mit dessen
Lieblingstoditer von Mme. Montespan
nidtt verhindert hat. Ihre spaten
Briefe zeigen, dais sic Philipp sehr
germ gehabt hatte and er ihr in der
Erinnerung wohltuend gegenwartig
war. Bei der Besdtreibung des En-
kels aus der Verbindung ihres Sohnes
mit einer kleinen Tanzerin, den sic
sehr hubsch fand, versaumte sic nie-
mals hervorzuheben, er ware ihm
ahnlidt, dem Monsieur selig. Es war
das der Enkel, den Liselotte so liebte,
daI sic total vergaU, uber die Ba-
stardwirtschaft zu poltern. Am lieb-
sten hatte sic ihm mit zwanzig Jah-
ren den Kardinalshut verschafft, lief
nidtt locker, bis er Herzog wurde, und
fiihrte bei seiner ?These" in der Sor-
bonne mit ihren Garden und ihrer
ganzen Hofhaltung ein Theater auf,
das selbst denen zu viel war, die un-
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ter Ludwig XIV. so mand-es erlebt
hatten.
Bei der Darstellung der Beziehun-
gen der Liselotte zu Mme. Maintenon
raumt Mathilde Knoop mit all dem
auf, was in der deutschen Literatur
uber die ,Kbnigsmaitresse" herabset-
zend vorgetischt wird. Allerdins
diirfte hierzu gesagt werden, daft die
Verfasserin manche Akzente anders
gesetzt hatte, ware sie nicht in der
Ansicht befangen, Liselotte von der
Pfalz sci ernstlidh religios gewesen.
In Wahrheit war die Bibel das beste
and fast einzige deutsche Budr, das
sie zur Hand hatte. Psalmen sang sie
aus Erinnerung an die Kinderzeit. In
der Messe ist sie oft eingesdilafen,
gelegentlich laut.
Liselotte sagte gerne, sic habe eine
kleine Religion fur sidt. Das finder
man auch in der kiirzlich erschienenen
Neubearbeitung der einst in Die
Bucher der Rose" sehr verbreitet ge-
wesenen Auswahl von Wilhelm Lan-
gewiesche durch Margarete Westphal:
?Die Brie f e der Liselotte" (Eben-
hausen 1958, Langewiesdte-Brandt.
Mit Kunsttafeln. DM 16,80). Der
schone Band gibt kostliche Beispiele
fur die Resolutheit, mit der die Pfal-
zerin religiose Probleme loste oder
vqm Tisch wischte. Vom Jenseits-
glauben hielt sie jedenfalls niches.
Ihr Menschenverstand verbot ihn ihr,
wie sic an Kurfurstin Sophie schrieb:
_?Ich babe heute ein schreiben von
meines bruders emahlin empfangen;
die ist sehr devot and macht mir
eine lange Predigt, wie dais der tod
nicht zu scheuen seie . . . Ich bin weit
von soldier perfektion, ich mull es
f estehen, and der starke glaube ist
eider meine sache gar nicht; idt sa-
ge ,leider`, weilen ich sehe, dais es
glUcklich macht, and ich halte vor
em grog gliidc, weilen man ja sterben
muss, persuadiert sein zu konnen, dais
man nadi dem tod viel gludelicher
als vorher sein kann and also mit
freuden stirbt. Ich bin so rob, dais
ich gestehen mull, dais ich ohne meine
sinnen nidits angenehmes begreifen
kann, and es will mir niche in kopf,
wie ich ohne meine augen was sdiones
sehen kann, noch ohne meine ohren
was angenehmes horen, nosh ohne
kopf denken, and das hindert sehr
meine freude zum sterben. Idt kanns
nicht leugnen, bin in dem fall welt
von meinem bruder selig, so den
vorschmack des ewigen Lebens emp-
funden."
?Die groflte Feindschaft des Jahr-
hunderts", die mit Mme. Maintenon,
war niche blots durch die unbeschreib-
lidien Torheiten der Deutsdien and
durdi die Krankung bedingt, dais
Ludwig XIV., der einzige Mann, den
die Herzogin von Orleans ihrer Liebe
wurdig gefunden hatte, die einstige
Erzieherin seiner Kinder von Mme.
Montespan geheiratet hat. Der eigent-
liche Grund liegt im uniiberbrUdc-
baren Gegensatz zweier Naturen and
im Widerstreit ihrer Geistigkeit.
Mme. Maintenon war beherrscht,
doch im stillen fanatisch ihren Ober-
zeugungen and Zielen hingegeben;
Liselotte war leidensdiaftlich and
dennoch tolerant. Die Franzosin,
obrigkeitsfromm and ganz im gegen-
reformatorisdien Fahrwasser, begun-
stigte die unheilvollen Mallnahmen
des KSnigs gegen die Protestanten, sic
wollte das Rad der Zeit zuriidedre-
hen, die Gewissensfreiheit aufheben.
Die Deutsche war geistig aufgesdtlos-
sen, wurde von jeder Unduldsamkeit
angewidert, fiihlte sick von der zu-
nehmenden Bigotterie des alternden
Konigs abgestofien. Auger der Frie-
densliebe der beiden Frauen hot side
in der Politik uberhaupt keine Briidce
der Verstandigung zwischen ihnen.
Liselotte hegte in ihrem Herzen fort-
schrittliche Prinzipien, die, wenn es
darauf ankam, starker waren als ihr
viel beredeter Standesstolz. Sie revol-
tierte gegen jedes Unrecht. Es war
nidit ihre Schuld, wenn das nur in
ihren Briefen gesdiehen konnte. Es
ist als ob die Rollen vertauscht gewe-
sen waren. Liselotte hatte eine Ein-
stellung, die man so gerne Franzosen
zuschrieb, bei Mme. Maintenon war
es umgekehrt. Liselotte gehorte wie
ihre Tante Sophie - die von ihr so
geliebte ' and fiber alles gesdiatzte
hochgebildete Kurfurstin von Hanno-
ver - and ihr Sohn, der Regent, in
die Linie, die zur Aufklarung fiihrt
E. F. PodacA
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Alles, was je sdtrieb
.Im Garten: rannten alle Blatter
wild durcheinander; Zweige wichen
hastig Unsichtbarem aus; Aste schau-
kelten and knurrten; dann kams an
midi and stemmte an meiner Brust,
se;elte in meinem Mantel and machte
mars Haar lebendig". Kein Worteci-
kett Wind" wird in die Baume ge-
hangt, Wind geschieht auf unserer
leibeigenen Haut. - Das Textstiick
stehe als Beispiel fur jene distanzlos-
dirhte Prosa, die Arno Schmidt
schreibt, am Anfang. Dag Distanz-
losigkeit - and daruber ohnmach-
tigges Befremdetsein - Jahrhundert-
schidcsal ist, sei ebenfalls eingangs
erinnert: "Mein Geist zwang mich,
alle Dinge in einer unheimlichen Nahe
zu sehen: so wie ich einmal in einem
Vergrogerungsglas ein Stuck von der
Haut meines kleinen Fingers gesehen
hatte, das einem Blachfeld mit Fur-
chen and Hohlen glide, so ging es
mir mit den Menschen and ihren
Handlungen", heigt es 1901 in Hof-
mannsthals Brief des Lord Chandos.
Inzwischen haben wir gelernt, dag
Distanzlosigkeit and Dicht-heran-sein
auch dichter and intensiver schreiben
lasses, mit der Optik auch die Syn-
tax andern; mit dem ?vereinfachen-
den Blick der Gewohnheit" kann nicht
mehr gesehen, mit dem fotografisch-
getreuen Vokabelsdiatz der Urgro1-
vater nicht mehr fixiert werden. Di-
stanzlosigkeit ist unkonventionell.
Was ereignet side, wenn ein so
provozierend distanzloser Autor wie
Arno Schmidt an Historisdtes, an
Palle der Literaturgeschichte gerat?
Lagt er von sidt Besitz ergreifen,
wird er geradezu Wohn- and Einfa-
milienhaus eines Schrgibenden von
einst? Oder nimmt er die toten Nicht-
Toten our kurzfristig in Pension, um
ihre Antiquiertheiten wie Moderni-
taten kennenzulernen, sie danadi in
unseren Tag einzulassen oder sie in
den Hades zurudtzusdudten? Ober-
rumpeltwerden, Sidi - iiberrwnpeln -
lassen, and dazu gehort immer eine
Portion unbewaltigter Jugendliebe,
ware Antwort eins: die undistanzierte
Vergangenheit. Und: Priifen auf
Nahe-Moglichkeit, das zeitgenossische
Element oder contemporan6it6, and
das bemuht Hall oder Bewunderung,
ware Antwort zwei: die kritisch di-
stanzierte oder nicht distanzierte Ver-
gangenheit.
Zwei Bucher liefern die Antworten:
Dya-Na-Sore", Gesprache in einer
Bibliothek - and - ?Fouque and
einige seiner Zeitgenossen", Biogra-
phischer Versuch; beide im Stahlberg-
Verlag in Karlsruhe erschienen,
Der ,,Fouqu6" erschliegt mit seinen
587 Seiten einen Romantiker, den
Gotiker unter den Romantikern,
wenn man prazisieren will. Dya-
Na-Sore" ist den Autoren Meyer,
Schnabel, Goethe, Karl May, Stifter,
Wieland, Cooper, Klopstodt and Karl
Philipp Moritz gewidmet. Die Reihe
mug man bunt heigen, and nicht aus
jedeni Sich-Widmen wird Widmung
an den Leser. Festzuhalten ist jedoch,
dag die 425 Seiten der Bibliotheks-
gesprache - beispielhaft lebendige
Funkessays, was man erfreulicher-
weise auch nicht wegliigt, den Gong,
die Musik and Regieanweisungen mit-
druckt - keinen Romantiker auf-
treten lassen. La Lumiere, das Licht
des 18. Jahrhunderts, die Aufkla-
rung: strahlt meist auf die Szene.
Sdiiei en wir eine Anekdote ein. Als
Wilhelm von Bode, dem man das
Kaiser-Friedrich-Museum verdankt,
jahrhundertanfangs in Italien Italie-
ner, Renaissance naturlich, kaufte,
bekarn er einen jener damals unbe-
greiflich versdirobenen Grecos gratis
dazu; langleibige Flammenwelt des
sparer erst entdeckten and preishodt
gesdtatzten Manierismus als Rabatt-
marke. - Die Anekdote besagt
nichts anderes, als dag jeder Ver-
gangenheit von Qualitat einmal die
fieberhafte Stunde des Wiederent-
decktwerdens naht; fur Greco schlug
sie mit den vehementen Uhren des
Expressionismus.
In den Bibliotheksgesprachen Arno
Schmidts geschieht eine solche Wie-
derentdeckung, unter mehreren i bri-
gens; Findung mug man sie heigen:
?Der duster-riistige, die ganze Jager-
und Sammelstufe der Menschheit ver-
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ki rpernde ,Lederstrumpf`, eine der
ganz grofien Archetypen der Lite-
ratur." Parzival, Ahasver, Faust wer-
den daneben genannt. - Pas im
Cooper zu finden, bedarf jenes in
den Marchen vorkommenden scharfen
Bucks, der so penetrant auf die trau-
menden Zeitgenossen wirkt, daf3 man
ihn durch schwarze Binden bandigen
mug. Gewifi ahnte man im kind-
heitserinnerten und unvergef3lichen
Cooper immer mehr, als die fur Ju-
gend verstummelte Ausgabe node be-
hielt; und spater, im Ganztext ge-
lesen, erweiterte rich das Panorama
zum amerikanischen Homer, dichte-
rischer Fundgrube fur die Sitten- und
Kulturgeschichte des immer aktuelle-
ren Landes. - Doch mufite das wei-
tere 19. Jahrhundert seit dem ersten
Ersdieinen des Cooper dahingehen,
Geschidite als Wissenschaft tiefschich-
tig hinabdringen, ,Urgeschichte der
Menschheit" formuliert werden, Ada-
ma von Scheltema Vorgeschichte
schreiben und das Jahrbuch IPEK
fur prahistorische und ethnographische
Kunst erscheinen; die vergleichsweise
?Expressionismuszeit" fur den Le-
derstrumpf" geschehen. Audi dann
ist Zuordnen und dem Altvertraut-
UnbewuAten in uns mit solchem Auf-
hellen zu entspredien: nahezu Genie-
griff. Unbewuf3ten Arche-Traum, un-
sere nie recht begriffene Cooper-Liebe
lehrt solche Erkenntnis denkend be-
antworten.
?Dya-Na-Sore, blondeste der Be-
stien" gilt als das Gegensdick: die
Hitlerbarbarei, vorausentworfen im
Staatsroman des osterreichisch dienen-
den Kanoniers Meyer aus Ansbadi;
eines spateren Herrn von Meyern,
der dann als Organisator des Land-
sturms contra Napoleon wirkte. Bose
Urinstinkte der Deutschen diktieren
das Buchopus, das sich wie chauvini-
stisches Urgesetz liest: ?Eine Erde
ohne Verwustung, eine Nation ohne
Krieg: waren ein Ungludt, das man
durdi Gebet abwenden sollte! Krieg
ist Wachen, Friede Sdilaf!" Und dies
wirklich ein Originalzitat, dessen wei-
terlebende Gesinnung man in Speng-
lers ?Jahre der Entscheidung" nach-
lesen kkann.
Unter denen, die aus Arno Schmidts
Quarantine in den Hades zuriidt-
geschickt werden: befindet sick -
unverzeihlicherweise, wie zornige Re-
zensionen meinen - Adalbert Stifter
mit seinem ,Nadisommer". Schon
Hebbel, der mitunter selbst lang-
weilige StUcke schrieb, kritisierte den
Roman. Und Egon Friedell, der wie-
derum Hebbel zitierte, wies auf die
,,Valeurs", Warme und Humanitat
des Autors Stifter hin. Aber meint
Arno Schmidt wirklich den Stifter in
seiner eigenen Zeit, in der Resigna-
tion wie Infektion lauerte, Huma-
nitas mit dem Bildungsbargertum ab-
zudanken schien? Gilt Affront nicht
der Stiftermode, unseren Ewig-nie-
Sehenden, die noch auf Atombomben
gehakelte Deckchen legen, als seien es
empfangsbereite Biedermeiersessel ?
Augenschlief3en und Schweigen pra-
sentieren die stille Form des Mitver-
brechens: die ,sanfte Unmenschlich-
keit", wie es Schmidt nennt, der
die heiliggesprochene Idyllflucht des
?Nachsommers" anprangert. ?Sei es
nur Akt ausgleichender Gerechtig-
keit", vermerkt der Schluf3 seiner
Kritik.
Zwischenspiele. Audi ein Toter
wird nosh einmal totgeschossen, was
kein Mord ist; Klopstocks ,Messias"
fand schon Grabbes Teufel in 'Scherz,
Satire, Ironie und tiefere Bedeutung"
fade und sank nach Lekture weniger
Verse in einem der vorerwahnten
Biedermeiersessel in Abgrundschlaf.
Und der Name Karl May liefert
jeder Art Kritik von Seiten ?Hoch-
literatur", wie Arno Schmidt sagt,
naturlidi alle Arten zubeiflender Ge-
bisse. Man ubersehe nicht, daf3 eine
der giftigsten Nietzsche-Satiren in
dem Stack steckt. Audi greift hier,
wie bei Cooper, ein Jugenderlebnis
nach Arno Schmidt und l0t ihn Ge-
rechtigkeit suchen; denn nebenher:
die original-zitierten Stellen erweisen
das Dichterische im Hochstapler Karl
May.
Entdecken und Entlarven: sind
Funktion der ,Dya-Na-Sore"-St5cke;
unter Ausschluf3 der Romantik, wie
wir vorbemerkten. - Warum schrieb
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er den ?Fouqu6", in den er sich ver-
lor und so abgrUndig, dag eine mo-
numentale Biographic uber den Dich-
ter eines einzigen, heute noch lesbaren
entstand? Er wuIlte durchaus, wem
er mit dem restaurativ gesinnten
als Radio-Essay-Sendung hief3 das in
Kurzfassung eindeutig: ?Anachronis-
,mus als Vollendung". Der Ritter
seinen mittelalterlichen Chevaliers-
traum in schon sehr burgerlichen Bie-
dermeier-Interieurs. In ihnen wird er
schreibender Don Quixote und, wean
es leibhafter zugeht, wie in puncto
Erotica, auch geprellter Sancho Pansa.
Der Zehnjahrstraum der Biographie-
Arbeit, der Arno Schmidt als Unkri-
tisch-Liebenden uberrumpelte, gait
wohl der geheimen Freude am mage-
ren, grof3gliedrigen Traummann, von
dem er selbst ein wenig Abbild in
dieser Zeit ist: samt Sancho Pansa,
seinem bissig schreibenden Mutter-
witz. - Wenn es ein Gesetz der
Kehrseite gibt, der ,,Fouqu6" zeigt es.
Der distanzlos harte Autor, Provo-
kateur und gern auch enfant terrible,
hat ein heimliches Verhaltnis zur
Welt der Hierarchien und Distanzen,
der Embleme, Riistungen und Uni-
formen; und einen scheuen Knaben-
glauben, der dieses rudimentare Mit-
telalter nods verehrt.
,,Alles, was je sdtrieb, in Liebe
und Hag, als immerfort mitlebend
zu behandeln", notiert das Vorwort
des Essaybuchs als Programm. Hier
behandelt er, was in ihm, wohl unge-
wugt, noch mitlebt: realisiert ein un-
verlierbares Knabentum mit Freude
an Abenteuern und Heldenzeit. Doch
durch wissenschaftliche Geriiste mit
Buchern und Zettelkasten hat er es
fast weise getarnt. Gesdtidite als Ver-
steckspiel; denn wir glauben ihm
nicht, dag er die Ritterbucher des
Chevaliers ernstnimmt. Gunter Oliass
Samuel Beckett
Murphy
Nora Waln
SGSe Frucht,bittre frucht-China
Jack Reynolds
? Versuchung in Bangkok
Platon
Siimtlidre Werke Band VI
Nomoi
Albert Camus
Der Mythos von Sisyphos
Ein Versuch Ober des Absurde
Hans Jantzen
Ottonisdte Kunst
Bitte fordem Sue Prospekle vom
Rowohlt Toschenbuch Verlag Homburg
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Lyrisches Wert darauf, uns kein X fur ein V
vormachen Stadtisdten Volksbiichereien hen zu lassen. Alle Kunst be-
Dortmund haben eine von Horst gichenbund dies sefehlt lfast ddurchw g.
Wolff zusammengestelltes, 85 Seiten Vokabel- und Bildassoziationen an
starkes Biichlein ?Lyrik unserer Zeit' sick mogen isein, mehr
mit 17 Autorenfotos und 4 Faksimiles nicht. Dieser interessant ere barocke Expressionismus
erscheinen lassen. Der Schul- und Kul- hat sick in einer Sadtgasse versam-
turdezernent Karl Hansmeyer gesteht melt.
mit einer gewissen Fassungslosigkeit, Einem der Antholo isten, Ernst
Cr habe das Vorhaben gerne unter- g
stiitzt, Weil er der Auffassung sei, dag Meister, wird von der eifrigen Ere-
das Lesen von Gedichten nicht nur mitenpresse, Stierstadt im Taunus (die
eine Angelegenheit von wenigen sein das Experiment an erste Stelle setzt
wolle. Die Sammlung solle eine BrUk- und, wie sic feststellt, auf letzte Fer-
ke zwischen Autor und Leser schla- tigkeit keinen Wert legt) ein eigener
gen. Die Verse unserer Zeit rissen Rahmen mit seiner Versesammlung
Zukunftiges herein. Pythiusa (28 S.) gestiftet. Bruchige,
Das Orchester ?1yrisdier" Stimmen von Lamrnskeletten, Schnecken, Zah-
hebt mit einer leidenschaftlichen In- ren, Nachen und Fragezeichen durch-
terpretation von Gunter Eichs ,,Nach- zogene Satze oder Halbsatze geben
hut" durch Karl Korn an. Sie nber- einen unkentiefen Sdimerz an dieser
tragt die Diskussion vom Gedidrt Welt zu erkennen. Es ist nicht ein-
auf die Situation der Zeit, sie inter- leuchtend, weshalb sich der Verfasser
pretiert weniger als sie attackiert und his nadi Ibiza begeben muSte, um
zwar den vom Wirtschaftswunder ge- dieses Bandchen zu sdireiben. In
speisten Burger. Sie identifiziert also ?Lyrik unserer Zeit" doziert er: ?Un-
Interpretation eines Gedichts mit set Heute? Es ist, mit seiner Gefahr,
staatspolitischer Erziehung und Auf- das Fazit einer schlechten Furcht, die
klarung. Ein solches Unternehmen ist sick am innersten Geist des Lebens
durchaus frawurdig, denn es deutet vorbei gebangt hat und von ihrem
nicht die Leistung, sondern die Ab- Bankrott, im Taumel fetter Zeiten,
skit, nicht die Gehaltformung, son- Auskunft gibt allein mittels Schwat-
dern den Willen dazu. zens von Gefahr." Das also will sein
Es folgen 47 Gedichte von 34 Au- Gedicht nicht sein. Fur ihn muff das
toren; die meisten von ihnen fUhren Gedicht ?bei sich selbst bleiben und
mit mehr oder weniger langen Be- darf auf teilnehmende Selbste rech-
kenntnissen ihre Produkte ein. Sie nen." Das tut es auch.
haben einander gegenseitig langst Als ein weiteres Experiment sen-
entdeckt, Nur drei wirklich bedeu- det die Eremitenpresse Die maka-
tende lyrische Gedichte lassen side bren Zeichnungen des merkwurdigen
hier finden: Krolows ,Schlaf im Mit- Herrn Scbreib" mit vierzehn lyri-
tagslidit", Hollerers ?So schlafen, so sdien Zitaten in die Welt. ,Kritzeln
wachen" (beide in goethesdier Dik- kommt von Kratzen", sagt der Feder-
tion) und Eichs Verse. Der Rest - fuhrer Werner Scbreib. ?Er nahm
mit Ausnahme von Schwedhelms Pro- fremdes und eigenes hervor, breitete
be ist ein Vokabelarrangement, fein sauberlich Blatt. neben Blatt, be-
das durch versahnliche Anordnungen traditete alles lange und traf eine
Bedeutendes auszusagen wunscht. Die- Auswahl: Lyrisch - graphisch, lyrisch
ses Bedeutende wird aber nur ange- - graphisch. Filigran zu Filigran.
deutet und sorgfaltig ausgespart. Die Eins, zwei, drei, vier " So ent-
Zeilen stehen unter em unausgespro- standen sehr feinlinige Kritzeleien,
chenen Motto Verse fur Versemacher fur die sich Werner Schreib bei dem
geschrieben". Herrn Verleger und sich selbst be-
Nun glauben wir durchaus nicht, dankt. Sie Sind eine vollig adaquate
nur Formtraditionelles begreifen und Interpretation von sinnverweigernden
schatzen zu konnen, doch legen wir Worterbucharrangements. (P. S. Die
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Empfehlung des Kritzlers im Vor-
wort, eine Genuf3lupe zu gebrauchen,
haben wir befolgt.)
Der Claassen Verlag, Hamburg,
legt ein 65 Seiten starkes Versbi ch-
lein Bild + Zeichen" von Walter Hel-
mut Fritz vor. Es fugt neue Bilder
and Zeichen zu dem vor einiger Zeit
erschienenen schwachen Erstlingsband
Achtsam sein" (Vorstadtpresse, Biel)
hinzu. Diese Sammlung gibt zur
Nachdenklichkeit Anlaf3. Der Titel ist
gut gepragt, denn these merkwurdig
sauberen and gut geschauten Bilder
sind wie auf die Wand geschriebene
Zeichen, impressionistische Expressio-
nen, d. h. sie ergeben ein wunder-
sames Tapetenmuster. Fritz fiihrt den
Leser davor hin, denn die Bilder sol-
len fur sick selber spredien. Diese
Zeichen erscheinen aber nur selten als
Symbole. Die epischen Verse sind still,
gekonnt, sie Sind verlaf3liche Materia-
lien, Bausteine, Skizzen, Reisebilder,
aus Traumgegenden der Wirklichkeit,
Behr passiv and haben es ein wenig
zu haufig mit der Appellation zu tun.
Interessant - wie sich Volksschulle-
sebuchsatze ins Poetische begeben. Als
Geleitpatrone fungieren Klee, Kro-
low Hollerer, Bachmann and der bei
solcfien Exerzitien als Folie zu zitie-
rende Klopstock. Fritz sieht die Mas-
ke der Welt durch die Maske des
Poeten. Wir sehen zuweilen nur die
ausgestanzte Maske. Es ist sehr zu
hoffen, dais der Autor side seiner
Kreise wird entheben konnen, nicht
ohne sein Talent auf hohere Ebenen
mit weiterer and perspektivischerer
Sicht mitzunehmen. Gelingt ihm dies
nicht, so wird ihm eine malerische
Monotonie als grof3te Abwechslung
verbleiben mussen and die gregoria-
nisds vorgetragenen Mysterien werden
ohne Geheimnisse sein.
Friedrich Torberg, der umsichtige
Herausgeber der Ssterreichischen Zeit-
sdirift ?Forum" and Herausgeber des
literarischen Gesamtwerkes von Fritz
von Herzmanovsky-Orlando, bietet
in einem schmalen, bei Albert Langen-
Georg Muller, Munchen, erschienenen
Band Lebenslied" (77 S.) Gedichte
aus funfundzwanzig Jahren. Sie Sind
sorgfaltig gearbeitet and haben den
Mut, Neues aus der kontinuierlichen
Tradition zu schopfen. Im Gegensatz
zu den heute beliebten unverbindli-
chen, leicht moros gefarbten Lebens-
splittern, vermitteln sie eine verbind-
liche Personlichkeit, die sick nicht
scheut, die Dinge bei ihrem verstand-
lichen (manchmal allerdings etwas all-
zuverstandlichen) Namen zu nennen.
Die Gedidtte sind sehr osterreichisdi,
besser Wien-beseelt, oft gemahnen sie
an Anton Wildgans, ohne Sentimen-
talitaten zu nahe zu kommen. Das
Kaleidoskop der Themen erstreckt
sick von ,Hebraischen Melodien" fiber
Liebes- and Lebenslieder his zu ,Wie-
ner Sonetten" and zur Elegie Auf
den Tod eines Fuf3ballspielers", die
ebensogut in einer Sekundarausgabe
von ?Wien - wortlich" haste stehen
konnen. - Als bedeutend erkennen
wir das den Band eroffnende ,Le-
benslied" an and die politischen
Mahngedichte ?Und du weif3t es
nicht" and Schlaflied fur eine deut-
sche Mutter". Von Paul Gerhardscher
Pragung and Signifikanz ist das
letzte, ,,Fiirbitte".
Thomas O. Brandt
Algrens Wildnis
Wildnis des Lebens", ein um 1930
in USA spielender Roman, von Nel-
son Algren geschrieben, bei Rowohit
ediert (331 S. DM 15,80), beginnt
mit zeitrafferischen, auch dichterisch
uberhohten Fixierungen von Milieu
and Genealogie seines Helden, eines
armseligen Landjungen, Sohn eines
halbirren Amateurpredigers and ge-
wesenen Saufers im Suden der Ver-
einigten Staaten, auf dem Lande.
Misere peripherer Armutshutten be-
wegt den Zirkel, sein Umschlag endet
beim Ausgangspunkt, im primitiven
Cafe ciner von fatalen Erfahrungen
geharteten noch jugendlichen Dame
namens Teresina, die aus Mexiko
stammt. Bevor Dove, der sehr ju-
gendliche Held, nach New Orleans
trampend sein Gluck auf manche
Weise versucht and dabei in den so-
genannten ,Abschaum" gerat, bevor
er in einer verrufenen Vorstadtstraf3e
New Orleans fast vor die Hunde
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ght und blind gepriigelt wird, er-
hrt er, zuhause noch, Unterweisung
in Liebe, von j!ener Teresina, in deren
Butike er halbwuchsig als Faktotum
wirkend vor dem Hunger bewahrt
wird. Ein vom nichtstuerischen Bru-
der ihm abgezwungener winziger
Griff in Teresinas Cafekasse erbringt
ihm den wortwortlichen Fuf3tritt,
Hinauswurf. Die Stof3richtung fiihrt
ins erwahnte Elend New Orleans'.
Anfangs der 30er Jahre, wirtschaft-
liche Depression, noch Zeit des heif3en
Dixieland. Der des Lesens und Schrei-
bens unkundige Dove erklimmt die
soziale Leiter auf keine Weise. In
die Knauel von Gier, Alkohol, Eifer-
sucht und Rachedurst verstrickt, wird
er von einem beinlosen, quasi auf
?fahrbaren Untersatz" montierten
einstigen Athleten blind und halb-
tot gescblagen. Das Elend der Arm-
sten kulminiert in Mordlust. Wahr
ist, daf3 diesem Autor Nelson Algren
von Hemingway grof3e Zukunft vor-
ausgesagt wurde, auch, dai3 die an-
gelsachsische Kritik ihm nun, fur die-
ses Buch, ?etwas von Gorkis Grof3e"
attestiert. Algren kennt das Milieu,
das er in scharfer Zeichnung und mit
genauen Farben schildert. Er kennt
den Menschen in der Tiefe seiner
Moglichkeiten, zu sturzen. Es gibt in
dem Buch von Nelson Algren Schick-
salskurven, Figuren wie die einsti-
ge farbige Lehrerin, die betrogen und
getreten in die Unterwelt fiel und
dort zu leuchten beginnt, kein phos-
phoreszierendes Leuchten der Faul-
nis, sondern absoluten Lichts: Gute
und Liebe im Abgrund. Man mag
dennoch bezweifeln, ob die Folklore
der Verzweifelten und Enterbten",
um jene angelsachsischen Urteile noch-
mals zu zitieren, der kunstlerischen
Notwendigkeit geniige. Auch Cber-
zeichnung - hier der Untergangs-
moglicbkeiten - und Aussdtlie13lich-
keit der Milieuwahl drangen zur
Einseitigkeit, behindern Komplexitat.
Noch ist Nelson Algren (Autor des
verfilmten Romans ?Der Mann mit
dem goldenen Arm") ein Romantiker
des Elends. Sein Ansatzpunkt, die
Preisgegebenheit, gibt ihm oft dich-
terische Intensitat fur eine Gestal-
tung, die Faulknersche Formelemente
zu adaptieren wei13.
Hermann Stahl
Man, konnte Francoise Mallet-Doris
- 1958 ausgezeichnet mit dern Prix
Fe'mina -, von der jetzt das zweite
Buch, Die Verlogenen" (Berlin 1959,
Ullstein. 301 S. DM 18,50), in deut-
scher C7bersetzung vorliegt, eine Fa-
natikerin der Wahrhaftigkeit nenne.n
In den bei uns unter dem Titel ?Der
dunkle Morgen" zusammengefaften
Romanen ?Le Rempart des Beguines"
und ?La Chambre Rouge" kommt
dies weniger in unmittelbarer Kritik
an der Umwelt zum Ausdruck als
in tier schwer uberbietbaren Aufrich-
tigkeit, mit der Franccoise Mallet-
Joris die Entwicklung ernes fruh er-
wachten und fruh enttauschten Mad-
chens schildert, dessen Reaktionen die
Umwelt indirekt anklagen, und auch
nicht in erster Linie der Luge. In dem
Roman ?Die Verlogenen" dagegen
ist das Aufdecken der Doppelgesich-
tigkeit menschlichen Verhaltens das
eigentliche Thema.
Die Gegebenheiten sind nicht be-
sonders originell: ein reicher, bereits
vom Tode gezeichneter Mann, der
sich als Wohltater aufspielt, um seine
Machtgeluste befriedigen zu konnen,
die Verwandten, die sehnsiichtig auf
die Erbschaft warten, und eine auf3er-
eheliche Todtter, von der zu erwarten
ist, daf3 sie die Hoffnungen der Ver-
wandten zunichte machen wird. Die
Sprache wechselt zudem zwischen Ur-
sprunglichkeit, einem Stil von er-
staunlidier Pragnanz, und Klischee.
Was aber eine durchaus eigene Be-
fabung verrat, ist die Handlungs-
iihrung. Frangoise Mallet-Doris be-
gnugt sich nicht damit zu moralisie-
ren; sie setzt vielmehr ihre Kritik
um in Aktion, und zwar laf3t sie es
zu einer scheinbar vollig vernunft-
widrigen Tat kommen, die nicht nur
um so deutlicher den Abscheu der
Autorin vor der Welt der Luge ent-
hiillt sondern auch das Verhangnis,
zu dern Verlogenheit werden kann.
Hildegard Ahemm
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Oskar
Die Sprache des Romans von
Edzard Schaper: ?Das Tier oder Die
Geschichte eines Bdren, der Oskar
hief3" (Frankfurt 1958, S. Fischer.
328 S. DM 15,80) nahrt sich aus der
Tradition and erfalt ihre Inhalte
so, dal3 man die Sprache dardber
vergilt: mehr kann auch die mo-
dernste nidht leisten, will sie nicht
Vokabelschlagerei bleiben. Die Ge-
sdhichte des an der litauischen Grenze
aufgewachsenen Oskar and seiner
Eltern, des Streckenwarterehepaares,
ihre Flucht, Zuflucht and ihr Tod
bewegen den Leser; Beschreibung and
Handlung gehen in eins, die Neigung
zum Schildern ordnet sick dem Gan-
zen unter, die Personen stehen da
als die, die sie Sind. Aber die epische
Erzahlweise, die in alien Relativi-
taten des Lebens den Menschen als
einzigen Bezugspunkt sieht, geht im
zweiten Teil aber in eine Symbol-
geschichte mit einem prononcierten
?Sinn", in ein novellistisches Genus
mit einem Falken", hier einer Ba-
renhaut. Aber well sie Haut and
nicht Bar ist, wenn auch als nahezu
allegorisches Symbol fur die Mittel-
barkeit eines entstellten Lebens ge-
dacht, so doch gedacht ist, mull der
Autor sich muhen, Leiden and Scham
Oskars in diesem Fell, in dem er
vor den Touristen seine Kapriolen
zu schlagen hat, zu erklaren, mull
ihn ausstatten mit intellektuellen Ein-
siditen in das soziologische Gefuge
der Touristengruppen and zugleich
mit Blindheit vor der Hinterhaltig-
keit Lacis', seines Brotherrn.
Die Form der rackblidtenden Ich-
Erzahlung macht unglaubhaft, daft
Oskar nidht wissen soll, was der Leser
langst schon weill; die Simplicius-
Einfalt wird kiinstlich, die inneren
Proportionen komplizieren sich zu
Erredmnungen eines Bedeutungszusam-
menhangs. Der clevere Fotograf La-
cis, der Oskar ins Hodhgebirge lockt
and In dort in die Barenhauterrolle
zwingt, bleibt einschichtig auf In be-
zogen; Nebenfiguren wie Yolanda
stehen mit wenigen Strichen atmend
da, die Masse als Masse, aber der
vollends allegorische SchluIl besiegelt
den Verlust der erzahlerischen Sou-
veranitat, aus welcher der erste Teil
seine Kraft gewinnt. Die Rechnung
geht auf, aber dazu ist sie angelegt.
Hier versagt die traditionelle Hal-
tung vor der Erfassung des ,Mo-
dernen" wie freilich nicht anders
moglich, wenn sie dessen Undurch-
dringlichkeit substituiert.
Heinrich Ringleb
Seit der Reformation, ja eigentlich
seit dem Aufkommen der Hareti-
ker konnen es die Menschen nicht
lassen, sick auszumalen, was geschahe,
wenn Christus auf die Erde zuriick-
kebren wiirde. Es mussen nicht immer
Blasphemien sein, die bei jenen ent-
stehen, die sick mit der Auskunft
der Bibel nicht zufrieden geben. Do-
stojewskijs ,Grol3inquisitor" ist die
beriihmte Ausnahme and auch das
grope Beispiel, um Unterfangen die-
ser Art zu messen.
Eine moderne Parallele zum
Neuen Testament" wolite Klaus
Mampell schreiben, der durdh semen
Erstling ?Wohlgeboren Wolfgang
Wundersam" gelinde Aufmerksamkeit
erregte. Das Letzte Testament"
nennt sidh das Machwerk. (Giellen
1958, Walltor-Verlag. 232 S. DM
12,-). Zwolf Autoren mit den un-
sinnigsten Namen handein in zwolf
?Monatsbi dhern", von denen eines so-
gar vom Mai 2519 datiert ist, die
sogenannte ,Gute Mar" vom Heiland
Gotthelf ab, auf den sich seine pra-
sumtiven Glaubigen durdh stim-
mungsvolle Kerzenabende vorberei-
ten. Man fragt sich standig, was mug
das fur ein abseitiger Spintisierer
sein, der in einem manchmal geradezu
schauderhaften Deutsch mit dem
Aplomb des Mystikers and Prophe-
ten Gedanken widergibt, die mit
Religion nur dem Namen nach etwas
gemein haben, geschweige denn mit
christlichen oder antidhristlichen Vor-
stellungen. Mit bestem Willen gelingt
es nicht, die Absicht des Verfassers
zu erkennen, der seinem konfusen
Opus durch die Bezeidhnung ?Roman"
nods die (Narren-) Krone aufsetzt.
Gunther Specovius
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Reiseerinnerungen
Rudolf Hagelstange vermittelt in
seinem neuen Reisetagebuch Das
Lied der Muschel" (Munchen 1958,
Piper. 82 S. DM 7,80) ein stimmungs-
volles and anschauliches Bild von
der Inselweft der griechisdien Agais.
Der gemanagten Sozial-Touristik ab-
hold, geht Hagelstange den Spuren
der griechischen Mythen and den
Zeugnissen des Christentums nach,
die in gegenseitiger Beeinflussung and
Durchdringung die Physiognomie der
griechischen Inselwelt gepragt haben.
Hagelstange beschreibt einen Morgen
auf Pathmos, einen Tag auf Myko-
nos and einen Abend auf Delos. Er
berichtet u. a. von der geheimnis-
vollen Welt der Kloster and von
den sagenumwobenen Tempelresten
der geschichtlichen Zeit. Reflektie-
rende Dialoge and philosophische
Sentenzen, Erinnerungen, den Raum
von Geschichte and Kunst urn-
greifend, lebendig gestaltete Gegen-
wart, an der Vergangenheit gemessen,
and dichterisch besdiworene Vergan-
genheit, alle these Merkmale einer
minuziosen and souveran beherrsch-
ten Diktion zeichnen das vorliegende
Buch aus.
In den Siiden Italiens fiihren die
Schilderungen einer vierzehntagigen
Reise, die Rolf Schroers unter dem
Titel Herbst in Apulien" (K61n,
1958, Kiepenheuer & Witsch. 120 S.
DM 6,80) veroffentlicht hat. Ge-
genwart, Mittelalter and Antike der
Landschaft Apuliens erstehen pla-
stisdt vor den Augen des Lesers.
Schroers' Beschreibungen iiberzeugen
durch die Dichte der Aussage, durdi
eine Intensitat der Sprachgestaltung,
die bis in die Details des Erlebnisses
spiirbar ist. Die in Briefform gehal-
tenen Momentaufnahmen beschaftigen
sich mit Kitchen and Kastellen, mit
Palmen- and Olivenhainen, mit
den Menschen des siiditalienischen
Raumes, mit bekannten and unbe-
kannten Werken der bildenden Kunst.
Die verwirrende Vielseitigkeit des
volkerkundlichen, kunst- and kultur-
teschichtlichen Erbes der Vergangen-
eit and charakteristische Bilder aus
der Gegenwart werden hier in einer
gekonnten Zusammenschau darge-
boten.
Beide Bucher sind kleine literarische
Kostbarkeiten, die aus der Flut der
im letzten Jahr erschienenen Reise-
beschreibungen hervorragen; man
wunscht ihnen weite Verbreitung.
Hugo Ernst Kau f er
Wir Sind in der gleichen Lage
Nach einigen Wodien Aufenthalt in
den USA glaubte schon mancher Be-
sucher, er babe das amerikanische
Wesen verstanden and kanne es deu-
ten. Wenigen gelang es, den Beweis
hierfiir anzutreten. Karl Korn jedodi
hat auf Skizzenblattern einer sieben-
wochigen Amerikareise ein ganzes
Bendel glitzernder Reflexe amerika-
nischen Wesens and Lebens, seiner
Gesellsdiaft and ihrer heutigen For-
men eingefangen: ?Faust ging nach
Amerika" (Olten and Freiburg i. Br.
1958, Walter-Verlag. 136 S. DM 6,80)
In diesem Prisma finden wir neben-
einander anschauliche Eindrucke vom
amerikanischen Wohnen and Arbei-
ten, vom Traditionssinn, der From-
migkeit and nicht zu vergessen der
Negerfrage. Die stichwortartige Schil-
derung beweist, dal auch erne na-
hezu unpolitische Amerikasuche wert-
voller sein kann als mandter erin-
nerungsschwere Walter.
Ist Faust wirklich nach Amerika
ausgewandert and hat sein metaphy-
sisches Gepadt in Europa gelassen?
Erscheint Faust auch in der Masse,
in den anscheinend recht unfausti-
schen Verhaltensweisen der Ameri-
kaner, die sick so viel praktischen
Komfort, Freizeit and solch seelen-
los-bequeme Vorstadte schufen? Es
stimmt, denn: Die Amerikaner ha-
ben nicht our einen Kontinent neu
gemacht, seine Natur verwandelt, sie
haben ein neues Volk gemacht."
Das Kaleidoskop enthalt auf we-
nigen Seiten viele kluge Erlauterun-
gen, eine der gelungensten davon ist
die Darstellung der Folgen des An
einanderreihens von Siedlungsklum-
pen in den ?Bandstadten".
Wie viel von dieser Neuen Welt
gibt es mittlerweile audi bei uns,
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dolt wir sind night nur ?amerika-
nisiert" worden, da mug der euro-
paische Faust mitverantwortlich ge-
wesen sein. Hier ruhrt Korn an einen
empfindlichen Nerv aller derer, die
sich dem schmerzenden Licht' der
Selbsterkenntnis zu entziehen sudten:
,,Aber wir haben in Europa keinen
Grund, diesen Zustand zu bewitzeln.
In verkleinertem Mafle sind wir in
der gleichen Lage." Wolfgang Rieger
Geistliche Dichtung
aus tausend Jahren
Wir besitzen zahlreiche Sammlun-
gen geistlicher Dichtung, darunter be-
finden sich manche guten; soweit ich
sehe, laf3t sick aber keine mit dem
von Friedhelm Kemp herausgegebenen
Band: ?Deutsche geistliche Dichtung
as tausend Jahren" (Munchen 1958,
Kosel. 543 S.) vergleichen. Hier
wurde von einem Sachkenner and
einem vertrauten Liebhaber dichteri-
scher Werte zum ersten Mal der ge-
gluckte Versuch unternommen, aus
der deutschen geistlidien Dichtung,
die einen Zeitraum von rund tausend
Jahren umfafit, derart auszuwahlen,
dal nicht nur bekannte and bewahrte
Dichtungen wieder erscheinen, daf3
vielmehr auch zahlreiche verschiittete
Kostbarkeiten aus selten gewordenen
Fruhdrucken oder schwer erreichbaren
Gesamtausgaben an den Tag gebracht
wurden and zwar in ihren ursprung-
lichen, ungekUrzten Fassungen. Gleich-
zeitig wurden aber dichterisch frag-
wurdige oder gar wertlose Stucke,
die in vielen Sammlungen mitge-
schleppt wurden, well sie eine Art
unentbehrlicher geistlicher Gebrauchs-
lyrik darstellten, ausgeschieden. So
ist eine Sammlung geistlicher, das
heilt ohne Unterschied der Konfes-
sionen christlicher Dichtung geschaf-
fen worden, die uns die Moglichkeit
bietet, an dem tausendjahrigen Ge-
sprach der deutschen Seele mit Gott
teilzunehmen. Wer sich in dieses Mo-
saik, wie der Herausgeber seine
Sammlung nennt, versenkt, dem wird
ein unvergeflliches Erlebnis zuteil
werden, er wird aus diesem Bande
ein Leben lang Kraft and Trost and
Ermutigung ziehen konnen. Schlecht-
hin unerschopflich ist der Gehalt des
Bandes, and wer das Buda sein eigen
nennt, besitzt einen groflen geistlichen
Schatz, fur den er dem Herausgeber
and dem Verlag Dank schuldet, umso
mehr als die Beitrage des Bushes
nicht nur ausgewahlt sind, sondern
well sie durch ein hervorragendes
Nachwort sowie grUndliche biogra-
phische and bibliographische Daten
erganzt werden. Alles in allem, in
einer Zeit, in der wir uns gerne ins
Bewultsein rufen, was wit an geisti-
gen Werten besitzen, bedeutet das
Erscheinen dieses Bushes einen beson-
deren Gewinn. Otto Heuschele
Mensch and Natur
Das Buch von Felix v. Hornstein
Wald and Mensch - Theorie and
Praxis der Weltgeschichte" (Ravens-
burg 1959, Otto Maier Verlag 283 S.
DM 38,-) geht uns alle an. Es ist
ein Beitrag, trotz des scheinbar be-
grenzten Themas, der unser eigenes
Anliegen sein sollte. Denn die Antwort
auf die Frage, wie sick in Zukunft das
Verhaltnis des Menschen zur Natur in
unserer heillosen Zeit gestalten wird,
kann, leider nicht muff Wege zei-
gen, die zur Gesundung fiihren kon-
nen. Das Buch hat streng wissen-
schaftlichen Rang. So besonders in
dem vierten and funften Problem-
kreis, den Felix v. Hornstein be-
handelt: der geschichtliche Teil and
die Analyse der waldbaulichen Ab-
laufe in den letzten Jahrhunderten.
Mit Nachdruck hebt der Verfasser
die Verantwortlichkeit des Menschen
bei seinem Mitleben in and seinem
Gegenubertreten der Natur hervor.
So beginnt er mit einem rein kultur-
philosophischen Teil, den man wohl
ohne Obertreibung eine Philosophic
des Waldes nennen kann. Diesem
Teil folgt die Untersuchung fiber das
Heimatliche, and dann nimmt er
Stellung im nachsten Teil zur ur-
sprunglichen and naturlichen Bewal-
dung von heute, wobei vor allem die
positiven and negativen Moglichkei-
ten erortert werden, die dem Men-
schen zuganglich sind. Der Wald ist
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der Huter des redo verteilten Was-
serhaushaltes, also der Garant der
Fruchtbarkeit schlechthin. Was an
Si nden des Menschen durch die Ver-
anderungen der nach der grofien Ord-
nung geschaffenen Natur begangen
worden ist, dt rfte in vielen Falllen
bekannt sein. In Nordamerika ist
der Wald in weiten Bezirken ver-
nidttet, hat er der ?Zivilisation"
weichen mussen mit der Folge, dali
durch das gestSrte Gleichgewicht
schwere Starme das Land verheeren.
Die letzte Verwustung, die grade
uns Deutsche angeht, gesdtah durch
die Methoden der ,Wiedergutma-
chung" auch durch die Waldbestande
unseres Vaterlandes. Die Alliierten
im Westen haben nach anfanglichen
rucksichtslosen Methoden allmahlich
Ri cksicht auf die Erhaltung der Na-
tur genommen, wahrend die Sowjets
weite Landereien der alten deutschen
Gebiete and audt der Gebiete in der
Zone schlechthin verwiistet haben, so
dai die Gefahr der Versteppung die-
ser Gebiete droht.
Schon these Hinweise di rften ge-
nUgen, um die Bedeutung des Buches,
fur dessen Herausgabe in 2. Auf-
lage dem Verlag Dank gebuhrt, klar-
zustellen. Die innige Verbundenheit
and Liebe des Verfassers zur Natur
geht aus der Widmung hervor. In-
nerlich ist er mit Adalbert Stifter
and Gottfried Keller, mit den Geo-
graphen Alfred Pendt and Robert
Gradmann verbunden and widmet
das Buch audi allen Lehrern wahr-
haft naturnahen Waldbaues sowie
semen Freunden and den Liebhabern
and allen Menschen. Die 1. Auflage
ersdiien im Jahre 1951. Jetzt liegt
das gut gedruckte and mit zahl-
losen Illustrationen and Karten ver-
sehene Buch in erweiterter and ver-
tiefter Auflage vor. Die Grundlage
der Untersuchung ist das Alpenvor-
land mit der Bodenseelandschaft. Der
ausfGhrliche Anhang unterstreicht die
wissenschaftliche Bedeutung dieses
nachdenklichen and hoffentlich auf
Verstandnis vieler Kreise stoienden
Budtes. R. P.
Neue Zeitschrift
ffir Musik
gegrundet 1834
von Robert Schumann
Unter Mitwirkung von Ernst
Thomas, herausgegeben von Prof.
Dr. Erich Valentin and Dr. Karl
H. Worner
bringt maigeblidie Beitrage
bekannter
Musikwissensdsaf tier,
berichtet fiber das
musikalische Geschehen
des In- and Auslandes,
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Neue Zeitschrift fur Musik
Mainz ? Weihergarten 12
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Richard in,
Wie bilden sick eigentlich histori-
sche Traditionen? Wie jene typolo-
gisch vereinfachten Bilder von Cha-
rakteren and Schicksalen, die - in
Legenden and Lesebuchern mit der
schlichten Kraft des ein fur alle Mal
Geppragten weitergereidht - in den
dichterischen Darstellungen weniger
ihren Grund als ihre legitimierende
KrBnung zu finden scheinen? Wer
Don Carlos oder Mary Stuart, Wal-
lenstein oder gar Wilhelm Tell (dieser
vollends Legendare!) ?waren", das
;,wissen" wir offenbar durch Schiller
bestimmter and gewisser als durch
Ranke. Warum aber ist das so? Fehlt
der Forschung die letzte verdichtende,
die im liebevoll gewalttatige.n Be-
nennen des ,,Guten" and ,Bbsen"
sdhdpferische Kraft, mit der die Kunst
ihren Stoff - audh Menschen als
ihren Stoff"! - zu gultigen and
dauernden Gestalten formt?
Wer Huizingas ?Herbst des Mit-
telalters" las, oder wer jetzt die mi-
nutios gewissenhafte and wahrhaftige
Monographie aber Richard III. von
England/York aus der Hand legt
(Paul Murray Kendall, ?Richard 117."
Aus dem Engl. ubertr. v. A. Seiffhart
and Dr. H. Rinn. Munchen: Verlag
Georg D. W. Callwey 1457. 487 S.
mit einer Stammtafel. DM 22,-) and
dann seinen Shakespeare hervorholt,
wird neuerlidi vor diesen Fragen ste-
hen. Kendall, Historiker an der Ohio
State University, hat das Muster
einer glanzend dokumentierten, voll-
kommen geredhten, behutsam abwa-
ggenden Studie vorgelegt. Der dyna-
stische and soziologische Hintergrund
der ?Rosenkriege" zwischen York and
Lancaster, dieses schauerlichen Gemet-
zels verwirrter Leidenschaften, aus
dem endlich der Stamm der Tudor
zum Throne Englands aufstieg -
these zeitgeschidhtlidhe Szenerie liegt
vor dem nadhzeichnenden Historiker
wie ein figuren- and rankenreidier
Teppich, dessen Muster and durdh-
laufende Faden hier auch nur andeu-
tend zu skizzieren nicht moglich ist.
Es mag genugen, auf eine der Wir-
kungen eines soldien, zunachst so ver-
wirrend scheinenden Bildes hinzuwei-
sen: Wohl keiner Geschidhtsepoche
ist das ineffabile fremd; eine jede
zeigt es, weist auf sein Dasein hin
in jeweils ihr gemaflen Andeutungen.
Seien es die geflUsterten Argwohne,
die sich zu Zeiten dynastisch be-
stimtnter Staatspolitik an den dump-
fen, heillosen Makel illegitimer Ge-
burt heften; seien es die angstigen-
den Geheimnisse, die einen im Aus-
land auf seine Stunde lauernden
?eigentlidhen" Thronpratendenten um-
wittern; seien es die schauerlichen
Unerklarlidhkeiten um Treue oder
Verrat zwisdhen Briidern, Vettern,
Rivalen, hinter denen jeweils Redits-
anspruche oder teilhafte and den-
noch pflichtbewui to Gefuhle beson-
derer Verantwortungen stehen -
Menschen, konkrete Personen and ihr
spektakulares Geschick sind es am
Ende, auf die die Mit- and Nach-
lebenden die Wirrnisse des Undurch-
schaubaren, Unerklarlichen, Unaus-
sagbaren konzentrieren wie auf einen
Brennspiegel. Die Frage nach dem
Grund dieses Vorganges, in dem Le-
genden sich bilden and mit dem Dich-
ter -- Shakespeare in besonders gro13-
artiger well nidht moralisierender
Weise - die innere Wahrheit ge-
schichtlidher Ereignisse in Gestalten
bannen, fuhrt in die metaphysische
Tiefe menschlidher Freiheit: Die Le-
gende des Volkes wie die Kraft des
Dichters wissen beide auf ihre Weise,
dai das mensdhlidie Herz - auch
and besonders das unfa1 bar zarte
and verletzliche eines rauhen, von
der Natur nicht ausgezeidineten, an
sich selbst leidenden Menschen wie
Richard III. einer war - der Quell-
ort jener radikalen Freiheit 1st, mit
deren Vollzug der handelnde Mensdi
sick dem ubergeschidhtl-ichen Gericht
stellt.
Die Arbeit des Historikers, der
nach seinen Kraften die schlichte
Wahrheit aus den zeitgenossischen
Quellen erhebt and darstellt, wird
den innersten Motiven der Geschichte
umso gerechter werden, je frommer
sie diesen ihren unaussagbaren Grund
in sich bestehen l0t, indem sie auf
ihn hinfuhrt. - Kendall hat these
Leistung in grof3artiger Weise voll-
bracht. Hellmut Kampf
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Fugen geratene Welt hat der mo-
derne Mensch leider ausreichenden
Anlaf3, sich durch all das Erschrek-
kende, dem er begegnet, seelisch be-
drUckt zu fiihlen. In seiner Sehn-
sucht, sich von diesem Druck zu be-
freien, findet er Starkun~ im Erle-
ben des ,Sch6nen", das ihm Natur
and Kunst (wenn Kunst auch nicht
immer in ihrer abstraktcn Spielart)
in reicher Falle bieten. Daf3 dieses
Bedurfnis ein echtes ist, findet in den
Bemuhungen um Erhaltung and Pflege
von Naturschonheiten, in der immer
groi er werdenden Zahl derer, die
these Schonheiten begluckt gemef3en,
and einem sich in Museen, Kunst-
Ausstellungen, sowie kanstlerisch-mu-
sikalischem Schaffen and Nach-Schaf-
fen offenbarenden kulturellen Hoch-
stand, voile Bestatigung.
Lin solches Erleben von Schonheit
and Harmonic setzt edodi voraus,
dali es uns eine WAX= offenbart,
die zu unverlierbarern Besitz werden
kannwenn sic uns Ober uns selbst
and ,unser Sein in der Welt etwas
aussagt. Und wo eine soiche Wahr-
heit erlebt wird, sollten ihre Zusam-
menhange mit den Moglichkeiten, das
?Schone" unserem Erkennen einzu-
ordnen, untersucht werden.
Zu dieser Einsicht, welche bei psy-
chologischen Erforschungen seelischer
Tiefen- and Untiefen selten Beach-
tung findet, fuhrt das Buch ?Vom
Schonen and seiner Wahrheit". Eine
Analyse asthetischer Erlebnisse von
Richard and Gertrud Kobner (Ber-
lin 1957, Walter De Gruyter & Co.).
Eine modernistisch eingestellte Kunst-
wissenschaft mag in shrer Uberheb-
lichkeit zwar die Tendenz cities ,Zu-
riick zur Asthetik Schillers" vielleidit
als unzeitgema9 ablehnen. Demge-
genaber wollen die Verfasser mit die-
sem Buch dem Leser helfen, das Er-
Hinweise
Sterne, Laurence: Das Leben and
die Ansichten Tristram Shandys (Bre-
men, Verla~ C. Schunemann. Samm-
lung Dieterid- Band 189. 685 S. DM
17,80). Der unsterbliche Roman des
lebnis des Schonen, wo immer er es
findet, nicht nur als ein lediglich
subjektives zu behandeln, sondern auf
die Erkenntnis zu achten, die es ent-
hallt. Da wir uns bemnhen, in allem
Subjektiven das objektiv Giiltige auf-
zudedten, so beschaftigt sick das
Koebner'scbe Buch audi nicht mit der
Kunst bestimmter Zeiten oder der
Schbnheit bestimmter Landschaften.
Im Gegenteil; es handelt sich, - vie
aus dem Schluilkapitel: ?Ausblicke"
klar hervorgeht - urn die zeitlose
Wahrheit, die jeder findet, der sick
in Schonheit zu versenken vermag,
and nicht darum, ?moderne" Kunst
zu ?bewcrten" oder ,alte" Kunst als
die einzig wahre zu verfediten. --
So stellt sich das Buds die schwere,
aber dankenswerte Aufgabe, dem Le-
ser ein notwendiges Rustzeug zu bie-
ten, sick mutig zu dem zu bekennen,
was er an and im Schonen erlebt,
and dieses Erleben so ernst zu neh-
men, dali es - wie wissenschaftliche
Erkenntnis - erkenntnistheoretische
Wertbestandigkeit behalt.
Der Mitverfasser dieses Buches,
Professor Dr. Richard Koebner, war
bis 1933 Professor fur moderne Ge-
schichte an der Universitat Breslau.
In 1934 folgte er einem Ruf an die
Universitat Jerusalem, an der er den
Lehrstuhl fur das gleiche Fach bis
zur Erreichung des Emeritierungs-
Alters in 1957 innehatte. Im Sommer
1958 verstarb er plotzlich, nachdem
er nodi kurz vorher einen Ruf an
das Institute for Advanced Studies"
in Princeton (USA) erhalten hat.
Von semen zahlreichen, in Fachkrei-
sen sehr beachteten Veroffentlidiun-
gen, verdient besondere Erwahnung
sein Beitrag zur ?Economic History",
herausgegeben von der Universitat
Cambridge. Lin zusammenfassendes
Werk Ober ?Imperialismus" im Wech-
sel der historischen Betrachtung blieb
unvollendet. Leon Zeitlin
grolen englischen Satirikers, der in
der Zeit unserer Klassik starke Wir-
kungen auf die deutsche Literatur
ausgeubt hat, liegt nun in einer aus-
gezeichneten Ubersetzung von Rudolf
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Kassner vor and wird zweifellos wie-
derum seinen Weg zu vielen deut-
sehen Lesern finden. Die 10 Abbildun-
gen nach zeitgenossischen englischen
Kupfern erh8hen die Lebendigkeit der
Wirkung.
Nowak, Leopold: Joseph Haydn.
Leben, Bedeutung and Werk (Zurich,
Amalthea Verlag. 578 S.) Zum 150.
Todestage Haydns am 31. Mai 1959
ist eine zweite uberarbeitete Ausgabe
der bekannten Haydn-Biographic er-
schienen. Eine sachkundige and liebe-
volle Wurdigung des osterreichischen
Musikers.
Muller, Hans Carl: Lieder vom
Montmartre, ubertragen and mit kur-
Zen Einfiihrungen versehen (Mundten,
Albert Langen - Georg Muller Ver-
lag. 108 S. DM 9,80). Besonders will-
kommen ist, da13 der franz6sische
Text and die deutsche C.Ybersetzung
einander gegenuberstehen, was nicht
nur die Prizfung der Giite der Ober-
setzung erleichtert, sondern auch den
einmaligen Zauber dieser lyrischen
Aufierungen einer ganzen Generation
erschlieflt, die als echte Bohemiens urn
den Montmartre herum heimisch ge-
wesen ist.
Deutsche Gedichte der Nadiroman-
tik and des jungen Deutschland, An-
thologie (Heidelberg 1957, Verlag
Lambert Schneider. 314 S. Ln. DM
9,50. Leder DM 15,-) Diese Aus-
wahl von Michael Brink and Lambert
Schneider bemnht sich um das, was
,,Ewigkeitswert" als Gedicht besitzt.
Sparsam sind einige unbekanntere
Diehter, teilweise nur mit acht Vers-
zeilen aufgenommen - das ist nicht
ungefahrlich. Sehen wir von dieser
Eigenwilligkeit ab, so bietet das Buch
sonst Uberwiegend eine kostbare Aus-
wahl.
Cleve, Walter Theodor: Evangelisch
and Katholisdr (Witten 1958, Luther-
Verlag, 118 S. brosch./Gln. DM 4,80/
6,40) Der Verfasser dokumentiert
nicht nur den kennzeichnenden Unter-
schied zwischen der Romischen and
der Evangelischen Kirche, sondern
veranschaulicht auch kritisch die Stel-
lung der heutigen Kirche des Eva.nge-
liums, zu der er aus dem Katholizis-
mus abertrat.
Melville, Hermann: Ein sehr ver-
trauenswurdiger Herr, Roman (Ham-
burg 1958. 370 S. DM 15,80) Dieser
schr vertrauenswurdige Herr ist eine
Art Eulenspiegel unter der Maske
eines Betriigers auf einem Mississippi-
Dampfer. Seine eulenspiegelhafte Mo-
ral zeichnet sich in einer bis zur Sa-
tire werdenden Gesellschaftskritik ab.
1857 schrieb Melville diesen kostli-
chen Roman, sechs Jahre nach Erschei-
nen seines weltbekannten ?Moby-
Dick".
Maass, Prof. Dr. Walter: Das Zeit-
alter des Kolonialismus (Luneburg,
Metta Kinau Verlag. 104 S. DM 4,90)
In der Schriftenreihe: Wissenschaft
and Menschenfuhrung, herausgegeben
vom Arbeitskreis fur angewandte
Anthropologic ersdiien these Abhand-
lung uber den Kolonialismus von den
Conquistadoren his zur Konferenz
von Bandung. Die Sdrrift schliel3t ab
mit der Forderung demokratischer
Selbstregierung fur entkolonisierte
Lander.
Sager, Dr. Peter: Ungarns Frei-
heitskampf, Separatabzug von im
?Bund", Bern erschienenen Aufsatzen
(Bern, Druck: Fritz Pochon-Dent,
32 S.) Der Anruf ist erfolgt, die
Weltgesdiichte wartet auf die Ant-
wort des Westens", steht im Schluf3-
beitrag dieser Sdrrift, in der in Ab-
handlungen von Dr. Peter Sager, Dr.
Dietrich, A. Lober, Prof.Werner Kagi,
Prof. Walther Hofer and von einem
ungarischen Gelehrten die Verletzung
des Volkerrechts in Ungarn zurn Aus-
druck kommt.
Greeven, E. A.: Reisen seit Anno
dazumal. Broschek Verlag. Hamburg
1958. 204 S. DM 9,80). Ein hochst
amusantes and auch lehrreiches Kom-
pendium des Reisens von der alten
Zeit bis in unsere Tage.
Godal, Eric: Teenagers. (Ham-
burg 1958, Broschek Verlag. 160 S.
DM 14,80). Dieses Buch ist in seinen
Illustrationen ein wenig oversexed,
enthalt aber eine Reihe sehr guter
Beitrage, so vor allem die von Bar-
bara Bondy, von Kastner and Haas.
Bruns, Ursula: Mensch and Tier.
(Freiburg 1958, Herder Verlag. 16 S.
DM 3,80). Ein besonders reizendes
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Bandchen des Bilderkreises im Her-
der-Verlag.
Wulf, Josef: Raoul Wallenberg.
(Berlin 1958, Colloquium Verlag. DM
3,80). Nur wenige gegenwartige
Schriftsteller waren in der Lage ge-
wesen, das Leben des tapferen schwe-
dischen Diplomaten, der heroisch urn
das Leben der ungarischen Juden
kampfte and dabei vermiflt wurde,
zu schildern. Ein Behr wichtiger Bei-
trag zur kleinen biographischen Reihe
?Kopfe des XX. Jahrhunderts".
Walz, Heinz: England (Nurnberg,
Glock and Lutz. 335 S. 16 Bildtafeln.
DM 15,-). Der Versuch, eine Biblio-
thek Geistige Landerkunde" heraus-
zugeben, deren 5. Band sick mit Eng-
land befaf3t, ist interessant genug.
Denn alle Beitrage, welche die natio-
nale Enge sprenggen and um Ver-
standnis fur die beredttigte Eigenart
aller anderen Lander werben, erschei-
nen als Notwendigkeit. Die Gefahr,
einem Volke gibt, herauszuarbeiten,
wird in dem vorliegenden Bande ver-
mieden. Die Angaben caber Religion,
Wissenschaft, Kunst, Kultur and Bil-
dungswesen beruhen auf statistischer
Grundlage. Ein ausfuhrliches Stich
worterverzeichnis ist beigefugt.
Wais, Kurt: An den Grenzen der
Nationalliteraturen (Berlin, Walter de
Gruyter & Co. 417 S. DM 27,-).
Es ist ein Buch, das den europaischen
Gedanken zu untermauern and zu be-
statigen geeignet ist, was umso not-
wendiger erscheint, als dieses alte Eu-
ropa zwischen den beiden entschei-
denden Weltmachten USA and der
Sowjetunion stark in den Hinter-
grund gedrangt worden ist. Die Ver-
fleditung der europaisdhen Literatur
wird an Einzelbeispielen in der Zu-
sammenstellung der verschiedenen
Aufsatze des Verfassers dargetan. Er
betrachtet u. a. ?Goethe and Frank-
reich", ?Sehillers Wirken im Aus-
land", ?500 Jahre deutscher Beurtei
lung der franzosisdien Literatur",
?Stendhals, Die Kartause von Par-
ma"', Die Auswirkung des franzo-
sischen Naturalismus auf die deutsche
Literatur", ?Ibsens Sinnbilder and
die Krise seines Jahrhunderts", ?Knut
Hamsuns Wandern durch die Welt",
?Calderon in Deutschland", ?Die ita-
lienische and deutsche Gegenwarts-
lyrik and ihre Beziehungen", ?Die
zeitgenossische Dichtung and die bil-
denden Kunste": D. H. Lawrence,
Paul Valery, Rilke u. a. Endlich auch
die ,Ber5hrung der alt-orientalischen
and europaischen Erzahlungsdiditung."
Nutzlicher Anhang mit Literatur-
nachweis. Grade bei der gegenwarti-
gen geistigen Situation kommt dem
Buch wegen der geistigen Haltung des
Verfassers erheblidie Bedeutung zu.
Reich, Hanns, Hrsg.: Kinder aus
aller Welt (Munchen 1958, Hanns
Reich Verlag. 22 x 28 cm, 120 Kunst-
drucktafeln, 20 S. Text. DM 19,80).
Mit diesem Terra Magica Bildband
hat der Verlag einen neuen Hohe-
punkt seines fotokunstlerischen Schaf-
fens erreicht. Die 120 Kinderbilder
von ersten Fotografen aus der gan-
zen Welt riihren das Herz des Be-
schauers. Sind nicht die Kinder unsere
Moglichkeit von morgen? Und wie
wenig haben sie zu lachen! Ein Buch
von grof3er Schonheit; aber von einer
Schonheit, die dem Entsetzen benach-
bart ist.
Lembezat, Bertrand, Hrsg.: Eve
noire (Munchen o. J., Hanns Reich
Verlag. 22 x 28 cm, 64 Tiefdruckbil-
der, 5 S. Text. DM 19,80). Der Her-
ausgeber steuerte die meisten Foto-
grafien zu diesem Terra Magica Bild-
band bei. Sein Text ist ein melan-
cholisdier Abschied vom sdiwarzen
Afrika, wo er in Kamerun and am
Kongo Madchen and Frauen ohne
Priiderie fotografiert hat. Maillol hat
solche nackten Schonheiten gezeichnet,
die keineswegs im Stande der Un-
schuld, das Verlangen nach einer bes-
seren Welt starken. Man kann sic
immer wieder ansehen, ohne zu er-
muden.
Herrmann-Neif3e, Max: Im Frem-
den ungewollt zuhaus, Gedichtaus-
wahl (Munchen, o. J., Albert Langen
- Georg Muller Verlag, 64 S. DM
3,80). Wohl ist Max Herrmann-Neil e
in unserer Zeit kein Unbekannter,
sein Name wird iiberall dort genannt,
wo man sick der Dichtung in den
Jahrzehnten vor 1933 erinnert. Fur
die Kenntnis seiner Dichtung ist al-
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lerdings nichts gleichermai en Genii-
gendes getan. Umso wesentlicher wird
jede Publikation, wenn sie auch nur
so schmal, wie leider die vorliegende,
sein mag. Soldi eine Auswahl birgt
aber audi die Gefahr, sie nach Ge-
sichtspunkten zu treffen, die Einsei-
tiges iiberbetonen. Die vorliegende
Ausgabe von Herbert Hupka bevor-
zugt nicht zum Vorteil des grof3en
menschlichen Raums des Dichters et-
was zu stark die Dichtung, die sick
auf seine engere sdilesische Heimat
bezieht.
Schulz, Joachim: Umgang mit Au-
straliern (Nurnberg 1956, Luken &
Luken. 32 S. DM 1,80). Politische
and wirtsdiaftlidhe Situation Austra-
liens - Lebensgewohnheiten seiner
Menschen: Konfession, Sitten and Ge-
braudie sind in dieser Erscheinung
kurz zusammengefaf3t.
Weidlich, Hansjurgen: Der Knildh
and sein Schwesterchen (Hamburg
1958, Agentur des Rauhen Hauses.
108 S. DM 5,80). Freuden and Sorgen
mit zwei vom Jugendamt vermit-
telten Adoptivkindern sind liebevoll
dar estellt. Das Budt gibs ein vor-
treff lidhes Beispiel fur kinderlose Fa-
milien, sic h der Waisen, also der Kin-
der, die schon da sind", anzuneh-
men.
Friedrich, C. J.: Totalitare Dikta-
tur (Stuttgart 1957, W. Kohlhammer.
315 S. DM 32,-). Der bedeutende
Staatswissenschaftler analysiert bier
die Institution der totalitaren Dik-
tatur mit Hilfe von sedhs Kriterien
(Ideologie, Massenpartei, Geheimpo-
lizei, Meinungs- and Waffenmono-
pol, zentralgelenkte Wirtschaft). Im
Rahmen der damit gezogenen Gren-
zen gelingt es ihm, neues Licht in die
sowjetischen and nazistischen Beispiele
zu bringen; eine Fulle von Einsichten
sprengt immer wieder den Rahmen,
audi der Methode. Was F. uber das
Vakuum zwischen Fuhrer, Gefolg-
schaft and Volk zu sagen hat, weist
weit ins Philosophische. Alles in al-
1em: Ein Beitrag zur politischen So-
ziologie des Totalitaren, der an Ge-
lehrsamkeit and Originalitat kaum
seinesgleidhen hat.
Schwarz, Richard: Wissensdhaft and
Bildung (Freiburg/Mundien 1957,
Verlag Karl Alber, VIII and 336 S.
DM 19,50). Nach Untersuchung and
Klarung der Fragen nach dem Sinn
der Wissenschaft and Bildung gelangt
der Verfasser zu einer Feststellung
ihrer MSglichkeiten in der gegenwar-
tigen geistigen Situation. Erschiipfend
ist der Einfluf3 philosophischer, hu-
manistischer, politischer and weltan-
schaulidher Perspektiven gewertet. Pa-
dagogisdie Gesichtspunkte fiihren zum
Vorschlag eines ?Studium generale"
als Institution der Universitaten, in
dem das Bewuf3tsein fur den Maf3-
stab des eigentlich Mensdhlichen ge-
wedtt werden soil, ein Widerstand
des freien Geistes gegen eine im tech-
nokratischen, politischen and okono-
mischen versklavte Welt.
Wer ist's ?
Neue Mitarbeiter: Hans-Ulrich Engel, 1929 in der Mark Brandenbur ge-
boren, war Museumsleiter in Freienwalde, schreibt in Berlin Fernsehfilme,
veroffentlichte u. a.: ?Fontane - damals and heute", 1958, ?Schlosser and
Herrensitze in Brandenburg and Berlin", 1959. - Waldemar Kuri, der im
Maiheft vertreten war, wurde 1930 in Kehl am Rhein geboren, humanistisches
Gymnasium in Freiburg/Br., Studium in Paris am Institut des Hautes Etudes
Cin6matographiques (IDHEC), danadt - neben publizistisdier Tatigkeit in
Paris - Dozent fur Filmdramaturgie and Filmanalyse am Deutschen Institut
fur Film and Fernsehen (DIFF) in Munchen; Ende 1957 auf eigenen Wunsch
wieder ausgesdhieden and seitdem ganzzeitig in Paris. Zahlreiche literarische,
historische and politische Rundfunksendungen vor allem iiber franzosische and
deutsdi-franzisische Fragen, fur deutsche Sender and beim Franzosisdhen Rund-
funk (RTF). Langjahrige Tatigkeit als Autor bei Sdhul- and Jugendfunk. Mit-
arbeit bei Fernsehen and Film in Frankreidi. Veroffentliciungen iiber Film-
fragen in Zeitsdhriften and in Sammelbanden.
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In den nachsten Heften
Rudolf Pechel
Hans Jaeger
Wolfgang Rieger
Wilhelm Sternfeld
Thomas O. Brandt
Friedrich Heer
Mario Ludwig
Ferdinand Lion
Roland Marwitz
der Deutschen Rundschau lesen Sic u. a.:
Der konservative Gedanke
Afrikaner and Weile
Die auslandischen Studenten in Deutschland
Kaiserin Friedrich and Karl Marx
Anpassung and Unabhangigkeit
Politik and Metapolitik
Gestalter der Moderne
Die Monade als Weltspiegel
Oppermann. Erzahlung
Beridltigung
In der Glosse Die unsterbliche Lilge" (S. 292) wurde versehentlich Albrecht
v. statt Johannes Haller gesetzt. Wir bitten um Entschuldigung. Uber Johannes
Haller sagt v. Rudolph, der zitierte Verfasser des Bullies Die Luge, die nicht
stirbt." auf S. 124: ?Den stickigen Qualm heute wieder anzublasen, ist nidlt
zu entschuldigen. Spuren des professoralen Starrsinns finden sich z. B. in
einem vor 1933 viel gelesenen Buch, das 1956 als Standardwerk der Geschichte`
neu aufgelegt wurde." Er zitiert aus dieser Ausgabe, Seite 232f.: ?Da kam im
ganzen Reich die langst vorbereitete Revolution zum Ausbruch. Vor dem Auf-
stand der Massen raumten Reichsregierung and Minister das Feld . ... Nun
konnten die siegreichen Feinde Deutschland den Full in den Nacken semen:
am 12. November 1918 trat der Waffenstillstand in Kraft, dem das geschla-
gene Heer,sich hatte unterwerfen m6ssen, weil eine Fortsetzung des Kampfes
mit der Revolution im Rucken unmoglidi schien." - Johannes von Haller war
ein fragwurdiger Mann sein Leben lang, ein Professor vom Treitschke-Typus.
Am deutschen Wesen wird die Welt genesen". Die Wendung ?Standardwerk"
fur die Nadikriegsausgabe seiner Epochen" gebrauchte auch Professor Dehio,
der sagte, wahrend einige Historiker sich bemiihten, das deutsche Geschichts-
bild zu reinigen, werde Hallers Buch Nachkriegslesern aufgetischt. Man glaubt
Gespenstern zu begegnen."
Mitteilungen
Der heutigen Gesamt-Auflage liegt ein Prospekt der Firma Furche-Verlag,
Hamburg, bei, worauf wir unsere geschatzten Leser ganz besonders aufmerksam
machen.
Anzeigenverwaltung: Hans Rosenstein, K8ln am Rhein 17, Postfach 9, Telefon 381304
Auslieferungsstellen der DEUTSCHEN RUNDSCHAU
Im S a a r g e b i e t: Budihandlung Bock & Seip, Saarbriteken, Bahnhofstrafle 98. -
Im A a s I a n d: A r g e n tin i e n: Kntlll & Wetzler, Estomba 1783, Buenos Aires. -
B o l i v i e n: Das Edio, Cochabamba, Casilla 748. - D 8 n e m a r k : Pressa AG,
Blegdamsfej 26, Kopenhagen N. - F i n n 1 a n d : Rautatiekirjakauppa Oy, Aka-
teeminen Kirjakauppa, 2 Keskuskatu, (beide in Helsinki). - F r a n k r e i c h:
Librairie Martin Flinker, 68 Quai des Orfbvres, Paris ter. - G r i e c h e n 1 a n d:
Georg Mazarakis & Co, Ihatissonstr. 9, Athen. - G r o If b r i t a n n i e n: Interbook,
12 Fitzroy Street, London. - I t a 1 i e n : Libreria Sansoni, Via Capponi 26, Firenze,
- L i b anon : The Levant Distributors Co., P. O. B. 1181, Beirut. - L u x e m -
b u r g: Messageries Paul Kraus, 27 rue Joseph Junk, Luxembourg. - N i e d e r-
1 a n d e : Meulenhoff & Co, NV, Amsterdam, Beulingstraat 2. - Nor w e g e n:
A. S. Narvesens Kioskkompani, Stortingsgata 2, Oslo. - P o r t u g a l : Alvaro
Goncales Pereira, Restauradores 12, Lissabon. - S c h w e i z : Azed AG, Basel, Dor-
nacherstr. 60-62; Sdhweizerisdhes Vereinssortiment, Olten. - S p a n i e n: Atheneum,
Barcelona, Pasaje Marimon, 23. - T it r k e i : Ttirk-Alman Kitapevi, Beyoglu,
Kumbaraci, Yokuxu 12. - A m e r i k a : Stediert-Hefner, Inc. 31 East 10th Street New
York 3, N. Y.; Golden Gate News Agency, 66 Third Street San Francisco 3, California.
Postverlagsort: Baden-Baden - Postbezugsprais: ?iertelj. DM s,-.
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International Social Science journal
(formerly: International Social Science Bulletin)
quarterly review published by the United Nations Educational,
Scientific and Cultural Organization, 2 Place de
Fontenoy, Paris 7eme.
JUST ISSUED:
VOL. XI No 1:
Part I:
SOCIAL ASPECTS OF MENTAL HEALTH
By way of introduction, by J. R. Rees - Environment and Mental
Health, by Marie Jahoda - Effects of Urbanization on Mental
Health, by Tsung-yi-Lin - Human relations in industry, by R. F.
Tredgold - Mental health problems in hospitals, by P. Sivadon -
Mental health in college and university in the United States of
America, by Dana L. Farnsworth and Henry K. Oliver - The
international approach to the problems of mental health,
by E. E. Krapf,
Part II:
ORGANIZATION IN THE SOCIAL SCIENCES
Current studies and research centers - Review of documents and
books - News and announcements.
Yearly subscription: $ 6.50; 32/6(stg); 2000 FF
Single issue: $ 2.00; 10J- (stg); 600 FF
or the equivalent in local currency. Send your orders to:
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v "?S 6300-40(MT
Ix W 4, 1,
WALTHER VON LOEWENICH
n Augustin zu Luther
$ei.trage zur Kir enges i to
1. Au f lage, 440 Seiten, Gin. DM 16,80
Der. Erlanger Kirchengeschichtler Walther von Loeweriich, der dutch
eine Anzahl bedeutender Werke inzwischen groge Beachtung gefun-
den hat,, legt nunmehr' einen neuen Band vor, dessen Beitrage spe-
ziell der Kirchengeschichte, dem eigentlichen Arbeitsfeld des Autors,
gewrdmet sind. Was ' in seiner einbandigen G` esamtdarsteIlung der
Kirchen~'eschichie` nainiich in dem' bekannten Werk ?Die Geschid to
r Kirche", notwendigerweise zu kurz kommen mugte, das finder
dgr4ser zum;ndest fur den Zeitraum von Augustin is zum' Augs-
burger interim in vielen Studten erganzt.
Insbesondere seine Lutherdeutungen', die von einer tiefen Verehrung
fur 'den grogen theologischen Denker zeugen, ohne deswegen in kri-
tiklose IApotheose einzumunden, werden viele Theologen and theo-
logisch interessierte Laien unserer Tage aufhorchen lassen. Loewenichs
Arbeitsgrundsatz; der sich mit' der Formel ,Freiheit in der Bindung"
umreif3en liege, bewahrt sick auch in 'diesen Beitragen zur 'Kirdien-
geschichte.
Wiederum macht eine knappe and ge'zielte Ausdrucksweise die Auf-
s4tze des Verfassers auch fur den Nuhtwissenschaftler zu einer an
genehmen' and anregenden Lekture.
`LUTHER-VERLAG WITTEN
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NEUERSC_HEINU`NG
Ap;proved`For Releas 2003/0$/11 CIA-RQP78`-027118 03004904 02-1
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- Band ,XI: Zwischen Apennin and Abruzzen
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Aim-wom Verfassgr se14~t besorgte Auswahl as dem Italien-Werk
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ANTON DIETERICH
Spanien on Altamira zum Alkazar
2. Auflage. 244 Seiten mit 9 Zeichnungen and
24 Fotografien. Leinen DM 16.80
ANTON DIETERICH
Spanien zwischen Cordoba,
Cadiz and Valencia
247 Seiten. 24 Kunstdruck-Fototafeln.
Leinen DM 16.80
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